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Das Argument

Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften

gegründet 1959

von Wolfgang Fritz Haug

Herausgegeben im Auftrag des Berliner Instituts für kritische Theorie (InkriT)

von Frigga Haug, Wolfgang Fritz Haug und Peter Jehle

 


Stirb und werde: vierzig Jahre ARGUMENT (1999) Die deutsche Theoriezeitschrift der kritischen Intellektuellen. (Auszüge)

Vor vierzig Jahren entstand diese Zeitschrift, indem an eine streitbare Flugblattreihe gegen Atomrüstung sich immer mehr Aktivitäten und Erwartungen ankristallisierten. Nach sieben Jahren entpuppte sie sich explosiv als führende Theoriezeitschrift der Studentenbewegung. Mit den politischen Veränderungen hat sie sich wieder und wieder gewandelt, nicht selten durch schwere Krisen hindurch, doch in entscheidender Hinsicht auch eine ungebrochene Kontinuität gewahrt.

 

1. Rückblicke

Schon im ersten Jahr machte DAS ARGUMENT einen Sprung von den Flugblättern der Studentengruppe gegen Atomrüstung zu den breit interessierten Berliner Heften für Politik und Kultur. Mit der Heftform taucht folgendes Programm auf:

DAS ARGUMENT geht davon aus,

dass es die gemeinsame Aufgabe der Intellektuellen ist,
die Wahrheit zu suchen und auszusprechen

dass die Resignation zum geistigen Spezialarbeiter
einen Verrat an dieser Aufgabe bedeutet

In Form und Inhalt sichtlich von Brecht inspiriert, bezeugt der Text auch, dass die Verfasserin, Margherita von Brentano, ebenso von Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung beeinflusst war, aber ohne in Lähmung zu verfallen. Dieses konzise kleine Intellektuellenmanifest vom Ende der fünfziger Jahre beschreibt noch immer wesentliche Züge der Praxis dieser Zeitschrift.

Bei der nächsten Etappe, dem Übergang zur Herstellung im Buchdruckverfahren im Frühling 1960 unter der verlegerischen Leitung von Christoph Müller-Wirth, spricht sich der angestrebte Bezug zum Politischen in schlichter Deutlichkeit aus. Man solle nicht »befürchten, dass das seriöse Äußere das Anzeichen einer Kommerzialisierung unseres Unternehmens ist. [...] Es bleibt ein politisches, das seinen Zweck außerhalb deiner selbst hat und wofür DAS ARGUMENT nichts ist als ein Mittel unter anderen. DAS ARGUMENT will weiterhin keine Ware sein, sondern eine Waffe.« (Argument 19) Dieses so militant daherkommende Konzept versammelte immerhin Mitherausgeber wie Günther Anders und Axel Eggebrecht, Ossip K. Flechtheim und Dietrich Goldschmidt, Helmut Gollwitzer und Propst Heinrich ,Gröber, den Studenten Thomas Metscher und seine beiden Lehrer Wilhelm Weischedel und Rudolf Sühnel, den Kabarettisten Rolf Ulrich und den Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre, um nur einige der Bekanntesten zu nennen. Die Zeitschrift war winzig. Das zitierte Heft erschien in einer Auflage von 700 Exemplaren.

Die nächste Wandlung bereitete sich dadurch vor, dass in der Inkubationszeit der Studentenbewegung – in Frankreich könnte man sagen: im Vormai – eine Gruppe aus dem Umfeld von Wolfgang Abendroth und Werner Hofmann an der marburger Universität zu der Zeitschrift stieß, während sich gleichzeitig Kontakte zur jüngeren Generation am Frankfurter Institut für Sozialforschung herstellten. Zum wichtigsten Vorbild des Zeitschriftenmachens war für die berliner Gruppe die von Max Horkheimer in den dreißiger Jahren herausgegebene Zeitschrift für Sozialforschung geworden. Diesem Vorbild wurde vor allem der Rezensionsteil nacherfunden. So wurde 1966 der nächste Sprung vollzogen: die Zeitschrift erklärte .sich zum Organ der sozialkritischen Akademiker, die breit gestreute Mitherausgeberschaft der ersten Jahre zurücklassend. Im Editorial zum ersten Heft des 8. Jahrgangs 1966 heißt es: »Das ARGUMENT wird von (vorwiegend jungen) Wissenschaftlern gemacht, als wissenschaftliche Zeitschrift. Wissenschaft ist, so sehr es viele ihrer Vertreter leugnen mögen, innerlich nie unpolitisch, sondern vielmehr selber ein gesellschaftliches Verhältnis. Entscheidend für den hier angestrebten Begriff von Wissenschaft ist der Versuch, diese ihre Dimension mitzureflektieren.« Die folgenden zehn Jahre brachten einen kometenhaften Erfolg. Die Auflage vervielfachte sich. Auch die früheren Hefte wurden immer wieder nachgedruckt.

Der Rückenwind, den das Zusammentreffen von Studentenbewegung und Hochschulreform für die Zeitschrift bedeutete, bewirkte mit der zeitlichen Verzögerung des massenhaften Bildungsprozesses einer akademischen Intelligenz neuen Typs den nächsten Sprung: die Fülle der eingehenden Manuskripte entlud sich zuerst in Argument 50 als voluminöser Sonderband, Kritik der bürgerlichen Sozialwissenschaften, dem bald nicht weniger umfangreiche Bände über Medizin, Pädagogik und Geschichte folgten. Damit war die Bezeichnung entstanden, die schließlich 1976 einer noch immer bestehenden Buchreihe mit inzwischen weit über zweihundert Titeln den Namen gab: Argument-Sonderbände. Aus der Zeitschrift im Selbstverlag war ein Verlag mit schließlich vier Zeitschriften und einer wissenschaftlichen Taschenbuchreihe geworden. Andere Aktivitäten kamen hinzu –von der gelegentlichen Konzertagentur mit Buch- und Schallplattenproduktion bis hin zur Gründung der Berliner Volksuniversität.

Um 1980 wurde es nötig, das Argument-Konzept zu reformulieren, schon um den Zusammenhang dieser ausgefalteten Aktivitäten deutlich zu machen. »Das Verlagsprogramm«, heißt es nun, »soll der Entwicklung der theoretischen Kultur der Linken dienen. Wissenschaftliche Zuarbeit zu den sozialen Bewegungen: den Kräften der Arbeit, der Wissenschaft und der Kultur, der Frauenbefreiung, der Naturbewahrung und der Friedensbewegung. Zuarbeit zu einem sozialistischen Projekt, das diese Bewegungen aneinanderlagert.« In Gestalt der Automationsforschung wurde dem Auftauchen der hochtechnologischen Produktionsweise besondere Aufmerksamkeit geschenkt; Ideologieforschung, Aufnahme der Kulturforschungen vor allem des CCCS Birmingham mit Stuart Hall, die Kritische Psychologie um Klaus Holzkamp und nicht zuletzt die Frauenforschung bildeten die wichtigsten untereinander kommunizierenden Projekte. Als Funktion des ARGUMENT wurde die Verbindung der einzelnen Projekte verstanden. Die Zeitschrift, hieß es nun, »dient der Entwicklung des allgemeinen Wissens- und Diskussionszusammenhangs«. Erneuerung des Marxismus war von jetzt an eine übergreifende Parole, die das ARGUMENT schließlich aus dem Bündnisumfeld der an der SU orientierten Kommunisten herauskatapultierte. Die Berliner Volksuniversität mit ihren vielen Nachgründungen der ersten Jahre -- Zürich, Hamburg, Göttingen u.v.a.m. -- versah Themen und Autoren der Zeitschrift mit einem außerakademischen Resonanzboden. Seit 1983 läuft die kritisch-marxistische Wörterbucharbeit neben der Zeitschrift her.

Eine strukturelle Veränderung der Zeitschrift selbst drückte sich 1982 in der Gründung der autonomen Frauenredaktion aus. Sie ist die Konsequenz aus der überall zu machenden Erfahrung, dass im Selbstlauf selbst bei bestem Willen sich an der männlichen Dominanz nichts je wirklich ändert. Seither wird jeder dritte Heftschwerpunkt von der Frauenredaktion erstellt. Als Nebeneffekt erbrachte diese Ausdifferenzierung die Erfindung der ersten feministischen Krimireihe in deutscher Sprache, Ariadne, deren stürmischer Erfolg innerhalb weniger Jahre den Argument-Verlag zu einem feministischen Literaturverlag mit einem nur mehr ein Viertel des Umsatzes bestreitenden Theoriesektor machte. Das Konzept entstammte nicht nur der internationalen sozialen Frauenbewegung, sondern leitete sich zugleich von Antonio Gramscis Forderung her, den Alltagsverstand als Adressaten der Veränderung zu begreifen.

Mit der sowjetischen Wende zur Perestrojka rückte für zwei Jahre das östliche Umbau- und Demokratisierungsprojekt ins Zentrum des Interesses, bis der Zusammenbruch die überschießenden Hoffnungen dieser Zeit enttäuschte.

 

2. Konzeptionelle Perspektiven

Jost Hermand hat die Entstehung des ARGUMENT in den Kontext der »Kulturgeschichte der Bundesrepublik« eingeordnet (1986). Ein historischer Faktor ist diese Zeitschrift mit ihren Tausenden von Autorinnen und Autoren zweifellos geworden. Aber ist sie auch heute noch geschichtlich im Sinne des Hineinwirkens in die Geschichte im Werden? Eine Zeitschrift ist dies nur, wenn sie sich zur Schrift ihrer Zeit macht. Sie muss versuchen, deren Latenz ins Manifeste zu heben. Den Zeitgeist zu verdoppeln, mögen andere besorgen. Marxistische Traditionspflege liefe auf ein Archiv für Vergangenes hinaus. Eine lebendige Zeitschrift, die sich unter anderem in der Nachfolge von Marx versteht, muss dazu beitragen, den noch kaum gedachten Formativkräften einen Namen zu geben und an der Entwicklung einer Sprache für ihre Analyse mitzuwirken. DAS ARGUMENT kann dies wiederum nicht in der Art einer Fachzeitschrift, sondern nur in einer die akademischen Disziplinen übergreifenden Form tun, indem es die arbeitsteilig auseinandersortierten Spezialisten in Anstrengungen des Zusammendenkens assoziiert.

Um uns darüber klar zu werden, worin die spezifische Aufgabe dieser Zeitschrift heute bestehen kann, stellt sich uns die Frage nach den aktuellen und potenziellen Adressaten und Subjekten der Zeitschrift. Die Fachidioten, »Brotgelehrten« (Schiller) und »Kopflanger« werden sie nicht lesen. Schwieriger ist es, von einem andern Imaginären Abschied zu nehmen: dem Ideal der allseits interessierten sozialistischen Persönlichkeit und der Illusion, ihr ebenso allseitig Analysen und Reflexion der sich wandelnden gesellschaftlichen Wirklichkeit zugänglich zu machen. Auch die Orientierung auf soziale Bewegungen ist nicht immun gegen solche Imaginarität: nicht nur, weil Bewegungen als solche nicht lesen, sondern auch weil sie nichts Permanentes sein können.

Die Adressaten einer solchen Theoriezeitschrift können nur die kritischen Intellektuellen sein. Für eine Intellektuellenzeitschrift (im weiteren Sinn von Gramscis Intellektuellenbegriff) der Linken verbietet sich aber der Intellektualismus abgehobener Diskussionen. Für sie gilt, mutatis mutandis, was Brecht von der Kunst sagt: Sie muss autonom gegen Indienstnahmen sein, aber nicht autark, nicht interesselos, sondern engagiert in den Kämpfen ihrer Zeit, aus ihnen Stoffe und Kräfte schöpfend.

Als thematische Brennpunkte kommen nur die krisenhaften und umkämpften Umbrüche unserer Zeit auf den verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen in Frage. Zu denken ist der entfesselte Kapitalismus, der sich nicht mehr gegen ein Anderes verteidigen muss und deshalb, schutzlos sich selbst ausgeliefert, ungehemmt aus- und angreift. Zu denken ist der Übergang zur hochtechnologischen Produktionsweise und die Formen, in denen er in den unterschiedlichen Realitätsebenen vonstatten geht. Zu analysieren ist, dass und wie dieser Übergang unter neoliberaler Hegemonie erfolgt, was nichts anderes heißt, als unter der Dominanz der »Marktinteressenten« (Max Weber) oder Konkurrenzgewinnler. Zu denken sind die unterschiedlichen Kriegsmuster neuen Typs, in die sich die entfesselte Konkurrenz fortsetzt. Zu denken ist der Umbruch in den Repräsentationsweisen und die Ausdrucksformen der »Globalizität«, wie die sonderbare Wortprägung des Bundespräsidenten Roman Herzog lautet. Zu befördern ist die Herausbildung europäischer Intellektualität, um zugleich den unbewussten Eurozentrismus in bewusster Selbstrelativierung aufzulösen. Zu fördern ist schließlich die globale Zirkulation von Konzepten und Erfahrungen kritischer Intelligenz: man mag am vorliegenden Heft beobachten, was das heißen kann.

Was die Veröffentlichungspolitik angeht, so werden wir alles privilegieren, was die gegenwärtigen Umbrüche in ihren Widersprüchen und womöglich in der Perspektive der Steigerung linker Handlungsfähigkeit zu denken erlaubt. Gefragt sind Beiträge, die Kritik und Widerstände verknüpfen wie Rosa Luxemburg dies im Material ihrer Zeit einmal praktiziert hat.

So treten wir ins fünfte Jahrzehnt ein mit der Absicht, auch diesem seine Schrift zu liefern. Weiterhin soll das ARGUMENT »keine Ware, sondern eine Waffe« sein; doch wenn die Ware nicht realisiert wird, ist die Waffe stumpf, darum rufen wir nicht nur zur Mitarbeit auf, sondern auch zum Abonnement. Eine Zeit lang Teil größerer Zusammenhänge, die wie ein Festland wirkten, kann man den Eindruck haben, das Projekt sei wie eine Insel übrig geblieben. Doch diese Not ist mit Notwendigkeit geladen. Die relative Isolierung erübrigt die Zeitschrift nicht, sondern macht sie auf neue Weise desto notwendiger


 


I. Zurückblätternd...

 

Ich habe die Geburt und das Sterben vieler Zeitschriften miterlebt. Aber keine Zeitschrift, der ich zur hundertsten Nummer hätte gratulieren können. Dass ihr euer Kind, obwohl ihr ihm erlaubt, nein, ihm befehlt, kein Blatt vor den Mund zu nehmen und komplizierte, ja trockene Texte von sich zu geben - dass ihr dieses euer Kind so lange habt großziehen können, das ist eine in der Geschichte der linken, parteilosen, philosophisch-politischen Zeitschriften einmalige Tatsache.

Günther Anders 1977

Ich habe am Argument immer sehr geschätzt sowohl die ökumenische Weite wie auch die kritische Strenge. Es lässt keine Phrasen zu und konfrontiert die Marxisten mit ihren eigenen Theorien und Wertstandpunkten.

Helmut Gollwitzer, 1988

Das Argument ist ein guter Spiegel der inneren Konvulsionen und Umorientierungen der linken Intelligenz. Da, wo es versucht hat zu führen, Programme zu entwickeln, greift es über die Funktion hinaus, die es erfüllen kann.

Georg Fülberth, 1988

Der Brain Trust der Studentenbewegung sei der Argument-Klub. Er begnüge sich nicht damit, die Studentenschaft zu kontrollieren, sondern strebe die Kontrolle über die Universität an.

Ernst Fraenkel vor dem Demokratischen Klub, laut Morgenpost vom 28. 10. 1967

Ein junges berliner SDS-Semester: "Was wir Jungen in gesellschaftspolitischen Fragen gelernt haben, das haben uns die 'Alten' im Argument-Klub beigebracht."

DIE ZEIT, 23. Februar 1968

Das Argument hat in starkem Maße dazu beitragen können, dass immer stärkere Teile der studentischen Massenbewegung der Rationalisierung ihrer Verhaltensformen und ihres Denkens zugänglich wurden und nicht mehr nur gefühlsbetont, sondern - wie es ihrer Ausbildung hätte entsprechen sollen - wissenschaftlich, auch in ihrer Auseinandersetzung mit dem offiziösen Wissenschaftsbetrieb, nicht nur im politischen Kampf selbst reagierten.

Wolfgang Abendroth, 1977

"Die Behauptung, dass 'Das Argument' die beste, weil fundierteste Zeitschrift der Linken ist, stößt heutzutage kaum auf Widerspruch. [...] Die Zeitschrift formulierte brisante Fragen, schon zu einem Zeitpunkt, da diese noch längst nicht in der allgemeinen Diskussion waren."

Frankfurter Rundschau, 5. November 1969

Das Argument gehört zu den anregendsten kulturpolitischen Zeitschriften im deutschen Sprachraum. In 99 Nummern hat es seinen Lesern zahlreiche kritische Argumentationen, Einblicke, Analysen und Meinungen geliefert, die nicht ohne Widerspruch blieben und gerade dadurch Argumente entwickeln halfen. Es hat so die Entwicklung der Bundesrepublik, ihrer Institutionen, ihrer Kultur und Wissenschaft antizipatorisch begleitet - und provoziert.

Heinz Ludwig Arnold, text + kritik, 1977

Ohne sich den Trends vor allem der linken Diskussiion zu ergeben, haben es die Redakteure und Autoren verstanden, aus einer kleinen Informationsbroschüre von Atomwaffengegnern eine auflagenstarke und renommierte Zeitschrift zu machen, deren Ansehen sich ebenso auf eine der wissenschaftlichen Diskussion richtunggebende Themenauswahl gründet wie auf den spezifischen Argument-"Stil".

Bund demokratischer Wissenschaftler, 1977

Aus Anlass des Erscheinens des hundertsten "Argument" fühle ich mich zutiefst beglückt, dass ich zu den regelmäßigen Lesern dieses großartigen Organs marxistischer Theorie und Meinungsbildung zählen kann.

Leo Kofler, 1977

"'Argument' liest man nicht, um nur 'mitreden' zu können, sondern weil man mitdenken will, um dann auch mitzuhandeln."

Martin Buchholz im Extra-Dienst, 1977

Hundert Bände "Argument": Wer sie durchblättert, stellt nicht ohne Betroffenheit fest, einen wie großen Teil seines Wisens, seines Reflexions-Reservoirs und seiner Standpunkt-Begründung er den Essays dieser Reihe verdankt - und das in einem Ausmaß, dass der Leser immer wieder in Gefahr gerät, für einen Augenblick zu vergessen, wie sehr er, scheinbar Niemandsland erobernd, sich in Wahrheit auf Feldern bewegt, die im "Argument" längst bestellt worden sind.

Wir brauchen die Berliner Enzyklopädie.

Walter Jens, 1977

Wir haben die Entwicklung des "Argument" nicht nur freundschaftlich, sondern mitunter auch sehr kritisch verfolgt. Um so mehr freut es uns, dass in letzter Zeit die Notwendigkeit erkannt wird, dass sich die verschiedenen Möglichkeiten materialistischer Wissenschaft, sozialistischer Theorie und Politik unabhängig und offen artikulieren können. Insofern wünschen wir dem "Argument" nicht nur ein weiteres Existieren, sondern auch und vor allem eine politische Entwicklung insgesamt, die es ermöglicht, im Sinne eines linken Pluralismus zu koexistieren.

Redaktion PROKLA, 1977

Für uns ist "Das Argument" zum Symbol geworden für ein deutsches und europäisches Denken von kritischem, demokratischem und wahrhaft konstruktivem Charakter.

MATERIALES - Revista de información y crítica cultural, Barcelona 1977

Your journal was invaluable as by translating many articles taken from it, we were able to acquaint Yougoslav readers with the most noteworthy research and discussions in Marxian circles in der Federal German Republic.

Milos Nikolic , Editor-in-Chief, Markzizam u svetu, Belgrad, 1977

"Das Argument" is serving a most needed functionin the stifling intellectual environment prevalent in the Western world. It provides an alternative vision and a critical outlook most needed in world scholarship.

Vicente Navarro, Editor-in-Chief, International Journal of Health Services, Baltimore, 1977

Man kann heute schon feststellen, dass "Das Argument" seine historischen Verdienste nicht nur im politischen Bildungsprozess der Neuen Linken in der BRD und Westberlin, sondern auch in der deutschsprachigen Schweiz hat.

Progressive Organisation der Schweiz (POCH), 1977

Was Das Argument als Zeitschrift auszeichnet, ist bei allem Wechsel der Verhältnisse ein hoher Grad an theoretischer Kontinuität. Das ist etwas, was ich sehr respektiere, dass es gerade nicht die Modeströmungen in der Theorieentwicklung mitmacht, dass es an einem bestimmten Zusammenhang von Marxschen Kategorien festhält. Das bedeutet, gegen den Strom zu schwimmen. Das ist heute eine sehr wichtige Funktion, die Das Argument hat... Das hat auch etwas von Retten vor dem Vergessen; von dem, was nicht aus dem Blick geraten darf. Die ganze Frage der Ideologie z.B., die sehr breite Faschismusdiskussion, die viel breiter und auch tiefer ist als bei anderen... Also kein blosses Beharren auf alten Strukturen, sondern ein Bewahren im Sinne eines kollektiven Gedächtnisses.

Oskar Negt, 1988

Uns wurde uns der Vorwurf gemacht, dass wir, weil wir als Feministinnen in der Zeitschrift geblieben sind, wir auch in einem bestimmten Marxismus geblieben seien: Im Nachhinein bin ich froh, dass wir damals nicht die Kraft und das Geld hatten, eine eigene Zeitschrift zu gründen. Wir wollten diejenigen, die sich marxistisch verstehen, auch feministisch erreichen können. Und wir wollten diese Zweibeinigkeit: Marxismus und Feminismus auch theoretisch-kulturell zeigen können. Das ist in der Zeitschrift möglich.

Kornelia Hauser, 1988

 

II. Nach vorne blickend: Argument-Neugründung (2005)

 
In Argument 249 (2003) versprachen die Herausgeber, »die Zeitschrift bis zum Abschluss des 50. Jahrgangs weiterzuführen und die Qualitätsstandards weiter (und zum Teil wieder) zu erhöhen«. Letzteres wurde zur Zerreißprobe. Der Rahmen einer berliner Redaktionsgruppe, die seit 2001 keine universitäre Anbindung mehr hatte, erwies sich als zu eng. Er musste, unter Konflikten, aufgesprengt, die Redaktion den technischen Möglichkeiten entsprechend von der Ortsgebundenheit emanzipiert werden. Zugleich galt es, die Fortführung der Zeitschrift über ihren 50. Jahrgang hinaus anzubahnen. All dies zusammen lief auf eine veritable Neugründung hinaus.
Die Übernahme der Zeitschrift durch das InkriT und der Beginn einer Erweiterung der Herausgebergruppe waren erste Schritte. Die Gründung eines Wissenschaftlichen Beirats, der im vorliegenden Heft seinen ersten Auftritt hat, ist ein dritter Schritt. Er geht einher mit dem Übergang von der festen Struktur zu der einer »lernenden flexiblen Organisation«.
Wenn in Argument 263 (2005) zum ersten Mal eine »Redaktion dieser Ausgabe« nachgewiesen war, so verbirgt sich hinter dem Zusatz »dieser Ausgabe« das neue Konzept: Für jedes Heft bilden wir künftig in Abstimmung mit dem Beirat, der auch an der Themenplanung mitwirkt, eine eigene »Projektredaktion«. Permanent besetzt sind nurmehr die Koordination und die fachspezifisch zusammengesetzten Rezensionsredaktionen. Aus ihnen, den Herausgebern und den jeweils arbeitenden Projektredaktionen setzt sich die Aktivengruppe zusammen, die an die Stelle der bisherigen Redaktionsversammlung tritt. Mit dem Wechsel der Projektredaktionen wird diese virtuelle Versammlung sich im Rhythmus der Hefte immer wieder umschichten.
Insgesamt bedeuten diese Veränderungen eine Öffnung und Vergesellschaftung der Zeitschrift. Wie bei jedem Experiment ist das Ergebnis offen. Bei den kommenden InkriT-Tagungen werden die Erfahrungen ausgewertet – so erstmals am 2. Juni (siehe die Ankündigung im Anschluss). Spätestens hier treten Beirat und Aktivengruppe zumindest teilweise aus ihrem unvermeidlich virtuellen Dasein heraus ins unersetzliche einer leibhaftigen Zusammenkunft.
Wolfgang Fritz Haug

 

Zur Autonomen Frauenredaktion

Als Krise fasst man die Zeit, in der sich entscheidet, ob der Patient die Krankheit überwindet oder stirbt. Im Argument haben wir die langschwärende Krise der Redaktion genutzt, um einen Aufbruch nach vorn einzuleiten. Wir haben die Redaktionsarbeit auf einen Stand gebracht, auf dem sie entsprechend des Stands der Kommunikationsmittel seit langem hätte sein müssen, wie ja dank Internet seit Jahren der Umbruch in Island gemacht wird. Beirat und Projektredaktionen bilden sich nicht nur überlokal, sondern international, ja global. Unserer Einladung sind in wenigen Wochen fast 150 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen gefolgt. Zum ersten Mal in der Geschichte der Zeitschrift sind die Hälfte davon Frauen, dies ist ein überraschendes Novum.
Was für die Redaktion allgemein gilt, gilt auch für die Autonome Frauenredaktion. An ihre Stelle treten der feministische Teil des Wissenschaftlichen Beirats und die entsprechenden Projektredaktionen. Beide arbeiten bereits auf vollen Touren, derzeit sind Planideen für mehrere Jahrgänge im Gespräch. Die Redaktion des nächsten Frauenheftes, das unterm Arbeitstitel Geschlecht und Migration vorbereitet wird, setzt sich aus zwölf Redakteurinnen zusammen; Rezensionen sind in Arbeit, Übersetzerinnen gefunden usw. Drei weitere Hefte sind in Angriff genommen. Die Arbeit ist ungleich lebhafter, aktueller, vielfältiger geworden, freilich auch anstrengender. Die nächsten Jahre werden zeigen, was jetzt möglich ist.
Frigga Haug

 

Qualitätsstandards

Karl-Heinz Götze kam beim Blättern im letzten Argument manches »über die Zeiten hinweg seltsam vertraut vor: die hohe Qualität, die ewigen Illusionen, die Finanzlage ...«. Als illusionär mag ihm der »Optimismus des Willens« vorgekommen sein, der uns bei allem »Pessimismus des Verstandes«, wie es bei Gramsci heißt, weitermachen lässt. Die Qualitätsansprüche aber waren es, an denen sich Konflikte in der bisherigen Redaktion entzündeten. Daher ist es angezeigt, einige der Maximen auszusprechen, denen wir bei der Gestaltung der Zeitschrift zu folgen suchen.
Fragen der Qualität sind Fragen der Ausstrahlung. Ob ein Aufsatz gelesen wird, hat – neben dem Prestige des Autors bzw. der Autorin und der Signalwirkung des Titels – damit zu tun, ob er gut geschrieben ist. Wenn der Anfang bereits verstellt ist, sinkt auch die Wahrscheinlichkeit, dass selbst wohlgesinnte Leser über die erste Seite hinauskommen. Qualität ist nicht auf Grammatik, Wortwahl oder Orthographie reduzierbar, aber ohne diese ist noch jede Botschaft von vornherein um ihre Wirkung gebracht. Die Form lässt sich vom Inhalt nicht trennen. Sie stellt sich auch dort nicht automatisch ein, wo das Richtige, Notwendige oder auch nur Interessante und Mitteilenswerte gesagt wird. Es ist ohne die Materialität des sprachlichen Ausdrucks nicht zu haben. Man muss sich Lektüre verdienen. Die Redakteure sind in der Pflicht, sprachliche Hebammendienste zu leisten, nachdem positive Voten den Weg zur Veröffentlichung eines Textes frei gemacht haben. Jetzt schlägt die Sternstunde des Redakteurs-Daseins: Ein Text bittet um die Ehre, ins Reich der deutschsprachigen Literatur entlassen zu werden.
»Selbstverständigung der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche« – diese (marxsche) Formel aus den Gründerjahren der Zeitschrift verlangt eine Arbeitsweise, die die politische Analyse der bloßen Exekution eines für politisch korrekt Gehaltenen vorzieht. Wenn Brecht für die »Weite und Vielfalt« realistischer Stilmittel stritt, so findet dies seine Entsprechung beim Machen einer Zeitschrift. Um »der theoretischen Kultur der Linken« zu dienen (vgl. 161/1987), muss eine Vielzahl von Auffassungen zu Wort kommen. Ferner gilt: »Die Widersprüche sind unsere Hoffnung« (Brecht). Nur wenn es gelingt, Handlungsfelder und die darin sich kreuzenden und einander wechselseitig verstärkenden oder blockierenden Tendenzen zu analysieren, wird man fähig, wirksam einzugreifen und sich manövrierfähig zu halten. Überzeugungen sind Orientierungsmarken im Rauschen der Meinungen. Ihr Bildungsprozess ist unabschließbar. Statt zur richtigen Gesinnung zu überreden, sollen die Autoren daher zeigen und zu denken geben. Die dabei verwendeten Denkmittel müssen ihre Nützlichkeit stets aufs neue beweisen. Die Mitte haltend zwischen dauerndem Werk und vergänglicher Presse, praktiziert die Zeitschrift notwendig ein Prinzip Abstand, das befähigen soll, in den Widersprüchen der Gegenwart handlungsfähig zu werden.
Peter Jehle
 
Zur Weiterentwicklung der Arbeitsstruktur siehe Redaktion.
 

 



 



 

Titel Autorin Jahr
Das große I, erste Glosse Frigga Haug 1996
Das große I, zweite Glosse Frigga Haug 2004

 


 


 

 

Es wird jetzt möglich, den Werdegang einer Erkenntnis zu verfolgen.
Die Neudrucke der ersten Jahrgänge von "Argument" dokumentieren ihn. Die Beteiligten selbst werden beim Wiederlesen Entdeckungen von Vergessenem oder Verdrängtem machen; Historiker der nun schon historisch gewordenen Studentenrevolte finden hier die gewichtigsten Zeugnisse ihrer Vorgeschichte in Deutschland, ihre ersten, vorgreifenden Artikulationen.
 
Aber wichtiger noch als dieser historische Aspekt ist der aktuelle: Welches von den Themen, denen diese Hefte gewidmet sind, können wir als erledigt abhaken?
Und welche von den Positionen, die in diesen Heften zu den einzelnen Themen vertreten worden sind, ist durch die Entwicklung dieser anderthalb Jahrzehnte widerlegt worden?
Atomrüstung, deutschpolnisches Verhältnis, Algerienkrieg, Berlinfrage, Portugal man lege etwa den entsprechenden Jahrgang der FAZ daneben und vergleiche: Wer war hier weitsichtiger?
 
Wer zugleich Anwalt der Freiheit, der Demokratie, der Humanität?
Wo klaffen Anspruch (auf den dahinter befindlichen klugen Kopf wie auf freiheitliche Demokratie) und Inhalt mehr auseinander?
Wo bestätigt die inzwischen abgelaufene Entwicklung mehr den Anspruch auf realistische Sicht der Dinge?
 
Dabei kommt freilich heraus, was eher "realistisch" zu nennen ist: die Borniertheit des augenblicklichen Interesses und seiner Verteidigung oder das Interesse an der Gewinnung der Zukunft, das Gespür für deren Forderungen und Gefährdungen, die Entschlossenheit, diese Zukunft nicht durch jene Borniertheit sich zerstören zu lassen.
 
Darum waren es nicht zufällig vornehmlich junge Leute, die diese Zeitschrift begannen und trugen und sich um sie sammelten. Sie sahen sich genötigt, ihr eigenstes Interesse, ihre Zukunft, zu verteidigen gegen diejenigen, die im Kleben am Gegenwartsinteresse die Zukunft ständig ignorierten und aufs Spiel setzten. Dabei wurde wieder einmal eine alte Erfahrung gemacht: In der Doppelverwendung des Prädikats "realistisch", im Streit um das, was wahrhaft "realistische Politik" genannt zu werden verdient, stellt sich heraus, daß die Fixierung auf das gegenwärtige Interesse, auf die Verteidigung der Privilegien des status quo koindiziert mit der Amoralität in der Politik, die dann mit dem Prädikat "realistisch" beschönigt und entschuldigt wird, und daß das Interesse an der Zukunft, die langfristige Vorausschau, koindiziert mit der moralischen Forderung an die Politik, mit der Forderung einer Politik für die gegenwärtig Leidenden, Unterdrückten und Geopferten, für die immer noch ausstehende durchgreifende Humanisierung der Gesellschaft.
 
Wer beim Wiederlesen entdeckt, in welch großem Maße damals moralisch argumentiert, entlarvt und gescholten wird, der täte sehr Unrecht, sich dessen zu schämen und dies zu kritisieren als eine überholte Phase.
 
Die moralische Empörung und die moralische Forderung, die am Anfang standen, sind nichts überholbares.
 
Sie müssen durchgehalten werden; sie sind nicht zu verlierende Kriterien der Politik, auch das selbstkritische Korrektiv gegen Entartungsmöglichkeiten im Sozialismus, gegen das Entschwinden des humanen Motivs und des humanen Zieles in den Tagesnotwendigkeiten und Tagesverführungen des sozialistischen Aufbaus.
 
Was damals ungenügend war, war nicht die Moralität, sondern ihre Beschränktheit, das Fehlen weiterer Erkenntnisse, die erst noch gewonnen werden mußten und die gerade aufgrund ernstgenommener Moralität gewonnen wurden. Zur moralischen Forderung mußte die Analyse treten, die Analyse derjenigen Interessen, die hinter der Verteidigung des gesellschaftlichen status quo stehen, die Analyse der Gründe für die Kurzsichtigkeit dieser Verteidiger und der ideologischen Verbrämungen, durch die der status quo als verteidigungswert erscheint und deren Eigenmacht in den Köpfen den verteidigten Interessen solche weite Bundesgenossenschaft bei den Massen sichert.
 
Für gesellschaftskritische Analyse bot der Betrieb an den Universitäten wenig Rüstzeug. Geisteswissenschaftliche wie naturwissenschaftliche Fakultäten waren blank davon, und die Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften erwiesen sich als angefüllt von Apologetik des Bestehenden. Wenn dieser Zustand dann von denen, die sich auf die Suche nach besserer Ausrüstung begaben, mit dem als Verdikt gemeinten Titel „"bürgerliche Wissenschaft" belegt wurde, dann kam das nicht aus einem manichäischen Vorurteil, das allem, was aus dem Bürgertum kommt, jeglichen Erkenntniswert abspricht und nur gelten läßt, was proletarische Situation lehrt, sondern aus der realen Erfahrung der Grenzen und der heimlichen Interessengelenktheit eines Wissenschaftsbetriebes, in dem die Frage nach jenem Rüstzeug ohne Antwort blieb und in dem beharrlich verweigert wurde, die Möglichkeit des Rechtes der Zukunftsalternative von Sozialismus oder Barbarei auch nur zu bedenken.
 
Gerade vor diese Alternative aber sah sich der nach seiner Zukunft und nach der Zukunft der Menschheit fragende wache Teil der jüngeren Generation immer entschiedener gestellt.
 
Im Unterschied zu dem aufs Gegenwärtige und aufs lokal Präsente beschränkten Horizont der Älteren, ihrer Politiker und ihrer Presse ging der Blick dieser Jüngeren über ihre wirtschaftlich prosperierende, euphemistisch "Wohlstandsgesellschaft" genannte Umgebung hinaus auf die Weltzustände, auf das Elend und die Befreiungsbewegungen der sog. "dritten Welt", auf den Kolonialismus und die Heuchelei der Entkolonialisierung, auf die Repression der westlichen weißen Industriegesellschaft über die übrige Menschheit, als deren Mitprofitierende und Mitverantwortliche sich diese Jüngeren erkennen mußten.
 
Johan Galtung schrieb einmal (Kapitalistische Großmacht Europa oder die Gemeinschaft der Konzerne?, Reinbek 1973, S. 200, Anm. 22), in seiner norwegischen Heimat bleibe der Blick der Älteren an den nationalen Problemen haften, der Blick der mittleren Generation weite sich allmählich auf Europa, der Blick der Jungen richte sich auf die Probleme der Welt.
 
In der Bundesrepublik war es nicht anders. Nach den Protesten gegen die Atomrüstung, die 1959 in einem studentischen Kongreß in Berlin zum letzten Mal nach dem Verrat der Parteien an der Anti-Atombewegung ihren Ausdruck fanden und in dieser Zeitschrift fortgesetzt wurden, gab 1961 eine Ausstellung in der Freien Universität Berlin, die dem algerischen Aufstand und den Foltermethoden der französischen Kolonialisten gewidmet war, den nächsten Anlaß zum Konflikt mit den auf die gegenwärtigen Interessen fixierten staatlichen und universitären Behörden. Dann alarmierte der Vietnam-Krieg.
 
Weil für ihn aber die amerikanische Politik, die Politik der Vormacht des Westens die Hauptverantwortung trug, zerbrach das Bild der USA als der Schutzmacht von Freiheit und Fortschritt, das die ältere Generation bei uns seit 1945 gehegt hatte; der moralische Protest mußte einmünden in die Analyse der amerikanischen Gesellschaft, die die Absurdität und Bestialität dieses Krieges möglich machte. Die amerikanische Protestbewegung als Ausdruck beginnender Erkenntnis der Wirklichkeit dieser Gesellschaft zündete weltweit, und was die USA betraf, wurde rasch als gültig auch für unsere Gesellschaft erkannt.
 
Kapitalismus ein von der bürgerlichen Wissenschaft schon für obsolet erklärter Titel erwies sich als zutreffende Bezeichnung für die Bewegungskräfte dieser Gesellschaft, für die wahren Interessen, die hier verteidigt wurden, für die Hauptursachen des bedrohlichen Weltzustandes. Vom Kapitalismus schienen aber merkwürdigerweise seine Akteure und Apologeten weniger zu wissen als diejenigen, die sich gegen ihn wehrten oder mit ihm gebrochen hatten. Wurde Kapitalismuskritik zum Erkenntnisgebot, so zeigte sich dafür allein eine Kapitalismus-Analyse als brauchbar, die praktisch und theoretisch vom Standpunkt einer von der Herrschaft der Privatinteressen befreiten Gesellschaft aus unternommen wird, also die marxistische, und im Vergleich mit anderen etwa der vor kapitalistisch-konservativen und der von einigen anderen (Silvio Gesell, Rudolf Steiner usw.) entworfenen, diese an Genauigkeit und Realitätssinn überbietend sie allein.
 
Das bürgerliche Denken hatte sie, was jetzt ebenfalls analytisch verständlich wurde, nie aufgenommen; die aggressivsten Agenten der bürgerlichen Machtsicherung, Hitler und die Seinen, haben sie aus dem öffentlichen Bewußtsein ausgerottet, und ihre heutigen Fortsetzer sind eifrig dabei, diesen Zustand der Bewußtlosigkeit zu erhalten.
 
Gerade die marxistische Analyse aber wurde zum unentbehrlichen und sich bewährenden Mittel zur Erkenntnis der wirklichen Strukturen und Prozesse unserer Gesellschaft. Als diese in den Veröffentlichungen des SDS, damit auch in dieser Zeitschrift, als Klassengesellschaft, als Gesellschaft der Herrschenden denunziert wurde, entgegen dem geglaubten Schein von demokratischer Gleichberechtigung, von Volkssouveränität und Sozialpartnerschaft, wirkte das schockierend, und der Schock war für die einen abstoßend, für die anderen erkenntnisfördernd. Manche Autoren, die in diesem Reprint noch zu finden sind, wandten sich ab. Sie fürchteten, unkritisch gegen eigene Ideologien, neue Ideologisierung, nun marxistische, wo doch neue Erkenntnis sich durchsetzte.
 
Freilich kann wie alles, was in den Köpfen ist, so auch Erkenntnis ideologisiert, d. h. in den Dienst der Verhinderung kritischer Prozesse um der Erhaltung gegenwärtiger Machtstrukturen willen gestellt werden, wie auch die schwierige bisherige Geschichte des Sozialismus beweist. Aber Erkenntnis bleibt auch bei solcher Ideologisierung immer noch Erkenntnis, und ihre Befreiung von Ideologisierung, also von der Indienstnahme durch partikulare Interessen, ist ständige Aufgabe sozialistischer Selbstkritik, wie sie auch in dieser Zeitschrift geleistet wird. So ging die Entscheidung für eine sozialistische Zukunftsperspektive und die Wiederbelebung marxistischer Analyse notwendig Hand in Hand.
 
Das hat diese Zeitschrift in den folgenden Jahrgängen bis heute geprägt, damit ist sie zu einem der wichtigsten, vielleicht zu dem wichtigsten literarischen Organ der marxistischen Diskussion in unserem Lande geworden. Die Anstrengung des Begriffs, die strengsten intellektuellen Anforderungen durften nicht gescheut werden, wenn die Gefahren eines gegenwartsgebundenen Pragmatismus und eines kurzschlüssig sich selbst befriedigenden Aktionismus, diese häufigen Verhängnisse in der sozialistischen Bewegung, vermieden werden sollten.
 
Ebensowenig durfte gescheut werden die Freiheit und die unerbittliche Härte der gegenseitigen Argumentation. Wenn nach dem guten Worte Lenins Marxismus nicht ein Dogma, sondern eine Anleitung zum Handeln ist, dann kann bei der ständig sich verändernden geschichtlichen Situation nur eine freie Diskussion der marxistischen Methode ihre Tauglichkeit als Mittel zur Erkenntnis ,der gesellschaftlichen Realität und zur Prognose sichern. Um dieser Tauglichkeit willen müssen Erstarrungen, die auf Gestriges festlegen, immer wieder aufgebrochen werden, und dies kann nur durch die Freiheit der Diskussion, also auch nur durch einen gewissen „"Pluralismus" der Diskutierenden geschehen, so daß eine marxistische Zeitschrift, will sie nicht nur Propagandaorgan für fixierte Gruppenlehren sein, sich der nicht einfachen Frage nach der Notwendigkeit und den Grenzen dieses innermarxistischen „"Pluralismus" immer neu stellen muß.
 
Dabei kann für eine solche Zeitschrift, die getragen wird von Intellektuellen, die aus dem Bürgertum kommen, und die im westlichen Milieu erscheint, der westliche Kapitalismus nicht der einzige Gegenstand sein. Sie muß diejenigen Länder, die schon aus dem kapitalistischen System ausgebrochen sind und den Aufbau einer sozialistischen Ordnung in Angriff genommen haben, ebenso in den Blick nehmen.
 
Die Frage nach dem wahrhaft sozialistischen Charakter dieser Gesellschaften und nach den Zukunftschancen des Sozialismus in ihnen ist aber eine offene, ja tief spaltende Streitfrage unter Marxisten. Gegen den manichäischen Antikommunismus der bürgerlichen Gesellschaft diesen Ländern gerecht zu werden und mit ihren sozialistischen Intentionen sich zu solidarisieren und zugleich marxistische Kritik auf alle sozialistischen Realisierungen nicht weniger als auf den Kapitalismus anzuwenden, weil allein dadurch sozialistischer Aufbau die immer drohenden Verkrustungen und Ideologisierungen durchbrechen kann, das ist die schwierige Aufgabe einer der marxistischen Diskussion gewidmeten Zeitschrift, die oft genug zur Zerreißprobe werden kann.
 
Mir scheint, „"Argument" hat bisher diese Erprobung einigermaßen bestanden, und um der Sache willen können wir nur wünschen, daß die für die Zeitschrift Verantwortlichen, denen unser Dank für ihre große Leistung gebührt, sich solcher Erprobung auch weiterhin aussetzen. Neben den inneren Gefahren, die dabei bestanden werden müssen, werden die äußeren Gefahren in einer Zeit der zunehmenden Freiheitseinschränkung in der von ihren Konflikten zunehmend bedrängten bürgerlichen Gesellschaft nicht geringer werden. Die damaligen Leitsätze der Zeitschrift (zum ersten Male in diesem Bande, AS 1/2, S. 89) haben auf dem geschilderten Wege von Protesten gegen einzelne Erscheinungen dieser Gesellschaft zu einer Fundamentalanalyse geführt und zur radikalen Infragestellung dieser Gesellschaft wegen ihrer Inhumanität und ihrer Versperrung einer menschenwürdigen Zukunft. Das wird nicht ohne Antwort bleiben von seiten der Interessierten, die sich dadurch bedroht fühlen.
 
Der Zustand bekommt einen paradoxen Anschein: Die Erhaltung der Errungenschaften der bürgerlichen Revolutionen, ihrer "freiheitlich-demokratischen Grundordnung", wird zur Sache derer, die die bürgerliche Gesellschaft in Frage stellen, und die Vertreter dieser Gesellschaft sehen ihre Interessen mehr und mehr in Gegensatz zu den bürgerlichen Errungenschaften geraten und sich gedrängt, auf diese zu verzichten. Prophetisch lesen sich heute die Sätze in dem Spanien-Aufsatz des Jahrgangs 1961/62 von jenen sich demokratisch nennenden Politikern, denen "„die Weiterentwicklung der westdeutschen Demokratie so fern liegt wie der ihnen vom Grundgesetz aufgetragene Schutz der spärlichen Ansätze von Demokratie vor der antikommunistisch aufgeladenen Verteidigungsmonomanie, die mit totalitärem Anflug jene zu schützen vorgibt", und denen darum "„die spanische Lösung", "desto verlockender" war (S. 222f).
 
Diese Gefahren mußte vorhersehen, wer sich auf den Weg, den diese Zeitschrift gegangen ist, eingelassen hat. Solange diese Zeitschrift erscheint, die wir noch lange brauchen, soll sie eine Hilfe sein, weder vor den inneren noch vor den äußeren Gefahren zu kapitulieren und auch der Versuchung zur Resignation, die schon in jenen ersten Leitsätzen erwähnt wird, zu widerstehen.
 
Im politischen Kampf handelt es sich um die Realisierung gesellschaftlicher Erkenntnisse. Wer durch die Machtverhältnisse von solcher Realisierung ausgeschlossen ist, wer ohnmächtig zusehen muß, wie das heute dringend Nötige nicht geschieht, wie statt dessen die Kräfte der Destruktion mit ihren heutigen Opfern auch die Zukunft zu begraben drohen, der hat eine Situation zu bewältigen, die innerlich und äußerlich gleich schwierig ist.
Was eine Zeitschrift dabei helfen kann, das möge "„Argument" tun. ______
 
* Zuerst erschienen als Nachwort in: Argument-Reprint Nr. 18-21, Argument-Sonderband 1/2, Karlsruhe 1975, 295-99.

 




Ist die Konstruktion der Zukunft und das Fertigwerden
für alle Zeiten nicht unsere Sache, so ist desto gewisser,
was wir gegenwärtig zu vollbringen haben:
die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden,
rücksichtslos sowohl in dem Sinne, daß die Kritik sich nicht
vor ihren Resultaten fürchtet und ebensowenig
vor dem Konflikte mit den vorhandenen Mächten.
Wir treten nicht der Welt doktrinär mit einem neuen
Prinzip entgegen:
Hier ist die Wahrheit, hier knie nieder!
Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt
neue Prinzipien:
Reform des Bewußtseins
nicht durch Dogmen, sondern
durch Analysierung des sich selbst unklaren Bewußtseins.
Es wird sich endlich zeigen,
daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt,
von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß,
um sie wirklich zu besitzen.
Wir können also die Tendenz unseres Blattes in e i n Wort fassen:
Selbstverständigung
(kritische Philosophie) der Zeit
über ihre Kämpfe und Wünsche.
Dies ist eine Arbeit für die Welt und für uns.
Sie kann nur das Werk vereinter Kräfte sein.
 
Erschien zum ersten Mal auf der Umschlaginnenseite von Argument 23, 4. Jahrgang 1962, H. 4.

 


Wolf-Dieter Narr

Thesseis (Athen)

Das Argument is the live example that Theory and Praxis can coexist, if they are subjected to sensible conditions: theory depends in the last instance on the criterion of practice, which, however, is not a simple accessory of day-to-day policy needs, and thus abstains itself from a compulsory oversimplification that transforms theoretical exercise into a cheap propaganda mechanism.

Espaces Marx (Paris)

Wir ermessen welche Energie in einem so lange währenden Projekt steckt, welche Leistung individuell und kollektiv es erfordert, eine Zeitschrift zu gestalten, die zählt, die wirkt, die gleichzeitig die Analysen, die Erneuerung der Theorie, die notwendigen intellektuellen Auseinandersetzungen befördert, und das über tiefe gesellschaftliche Veränderungen hinweg, die ständig neue Herausforderungen mit sich bringen.

 

Inez Hedges (Boston)

Noam Chomsky said in a speech, "If educators have any function it's to resist historical amnesia." Since I have been privileged to work on Das Argument and with the HKWM group, I feel that I am part of a great project, not only of remembering, but bringing that memory forward into the future. All my projects now share some of that ambition and concern. By your example you have both shown that one can have serious intellectual and political commitment while also living a life that is filled with beauty and fun! Thank you for leading with your example.

 

New Left Review (London)

From the rubble of history, the valiant intellectual labours of Das Argument and the Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus are constructing a veritable Library of Alexandria, for the Left to come.
Susan Watkins

 

Thomas Metscher

In Gedanken bin ich bei Euch - erinnernd, daß ich Zeuge war und Zeugnis geben kann: der Zeiten, als das Argument ausgeheckt, geboren und getauft wurde, getauft mit den unheiligen Wassern einer kritisch-dialektischen Vernunft. Ich war auch oft danach dabei, auch die Jahre, als ich auf Conollys Grüner Insel weilte, schreibend und bei den Besuchen in Berlin. Die Tage der Trennung, die dann kamen, hätten bei rechtem Gebrauch unserer Verstandesvermögen vermieden werden können; denn das uns Trennende ist immer weit geringer als das uns Einende gewesen. Es hätte produktiv gewendet werden können. Dass es im Gegenteil zum Riss führte, erscheint mir heut als Werk gemeinsamer Unvernunft. Wir haben genau das getan, was unsere Gegner gerne sehen. Sie sitzen sicherer, wenn wir uns streiten. Für solche Blödheit nehme ich gern einen guten Teil auf meine Kappe. Lernen wir daraus, das Trennende zukünftig produktiv zu wenden, dann hat die traurige Geschichte wenigstens eine gute Lehre gehabt.
 
argument1-1959 000
 

 

Margherita von Brentano

Das Argument-Projekt (1958)

Das Argument

geht davon aus,
daß es die gemeinsame Aufgabe der Intellektuellen ist,
die Wahrheit zu suchen und auszusprechen
daß die Resignation zum geistigen Spezialarbeiter
einen Verrat an dieser Aufgabe bedeutet

Das Argument

hält es für notwendig,
angesichts der Bedenklichkeit
des Aussprechens der Wahrheit
die Wahrheit zu bedenken und auszusprechen

angesichts der Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit
diese Schwierigkeit durch Schreiben der Wahrheit

zu bekämpfen

angesichts des Scheiterns der Aufklärung
die Gründe dieses Scheiterns aufzuklären

angesichts der Erfahrung,
daß das Wirkliche nicht schon das Wahre ist,
die Wirklichkeit wahrzunehmen

angesichts der Erfahrung,
daß Erkenntnisse nicht schon Argumente sind,
Erkenntnisse zu Argumenten zu machen

Das Argument

will einen Ort bieten,

wo die Kontakte hergestellt, die

Informationen vermittelt
die Analysen durchgeführt
die Argumente geprüft werden können,
um die genannten Aufgaben hier und jetzt zu konkretisieren

(Zum ersten Mal erschienen auf der Umschlaginnenseite vonArgument 19, Juni 1961)

 

Reimut Reiche, Eine Erinnerung an die ersten Jahre

Jeder, der an dieser Zeit der Wiederentdeckung einer Welt des verschütteten Denkens teilhatte, erinnert sich an das besondere, identitätsstiftende Hochgefühl einer inneren Verbundenheit mit Gedanken, die zuvor ,nie gedacht' waren und die doch alle schon ausformuliert vorlagen und nun aus den Exilarchiven ans Tageslicht befördert wurden. (...) Das erklärt auch, warum es für diese Zeit so wesentlich war, verlorene Gedanken wie verschüttete körperliche Objekte leibhaftig auszugraben: der Wert eines Gedankens schien mit der Mühe der Bergungsarbeit der Publikation zu wachsen, in der er erschienen war. Die frühen Aufsätze von Otto Fenichel, Siegfried Bernfeld oder Wilhelm Reich hatten ebenso wie die aus der Zeitschrift für Sozialforschung oder die von Lukács, Thalheimer oder Pannekoek diese Aura um sich. Lebhaft erinnere ich mich an die Gefühlsmischung aus Ehrfurcht, Hochgefühl und Scham, in der wir 1963 die ersten hektographierten Abschriften von Horkheimers Aufsatz Die Juden und Europa (1939) entgegen-nahmen, der gerade von Mitgliedern des Westberliner Argument-Clubs zugänglich gemacht worden war. Einen ganzen Winter lang lasen und diskutierten wir im Argument-Club diesen einen Aufsatz.


 

 

 


 

 

 

 

 

 

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 Zentraler Ausschuss gegen den Atomtod (Berlin/W 1960) von links nach rechts: Dr. Erich Müller-Gangloff (Leiter der Evangelischen Akademie, Berlin/W), Prof. Schaaf (Physiker), Prof. Wilhelm Weischedel (Philosoph), Prof. Helmut Gollwitzer (Theologe), Wolfgang Fritz Haug (stud.phil., Sekretär des Ausschusses), Dr. Margherita von Brentano (wissenschaftliche Assistentin)

 

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Argument-Redaktion 1964. Von links nach rechts: Bernhard Blanke, Reimut Reiche, Jürgen Werth, W.F.Haug

 

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Peter Glotz und Wolfgang Fritz Haug 1979

 

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Volker Braun und Wolfgang Fritz Haug 1996

 

 

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