Naturrecht

A: ḥaqq ṭabīʽī. – E: natural law, natural right. – F: droit naturel. – R: estestvennoe pravo. – S: derecho natural. – C: zìránfǎ 自然法

Hermann Klenner

HKWM 9/II, 2024, Spalten 2202-2223

Unter N (ius naturae) wird eine vermeintlich existierende Gesamtheit universell geltender Verhaltensregeln verstanden, die sich aus dem Willen Gottes, der Weltordnung, dem Wesen oder der Vernunft des Menschen ergebe und gegenüber dem in den herrschaftsförmig organisierten Gesellschaften tatsächlich geltenden Recht (ius positivum) vorrangig zu sein beansprucht. Wie beim Recht und der Gerechtigkeit gibt es auch beim N keinen allgemein anerkannten materialen Begriff, und es kann auch keinen solchen Begriff geben, widerspiegeln sich doch in ihm unterschiedliche bis gegensätzliche Interessen materieller und ideeller Art. Umstritten sind bes. Existenz, Herkunft, Inhalt, Wandelbarkeit, Verbindlichkeit sowie die zeitliche und räumliche Universalität des N.

Die Bandbreite historisch vorkommender Bedeutungsunterschiede ist beträchtlich: Der biblischen N-Behauptung von einer überirdischen Quelle aller irdischen Befehlsgewalt über menschliches Verhalten – etwa im Brief des aus dem in der heutigen Türkei gelegenen Tarsus stammenden Apostels Paulus an die Römer aus dem Jahre 57: »Es gibt keine Obrigkeit, die nicht von Gott kommt« (non est enim potestas, nisi a Deo) (Röm 13,1) – opponiert ein deutsches Wörterbuch von 1849: »N ist die Wissenschaft von dem Rechte, insofern dasselbe aus bloßer Vernunft erkannt wird, also nicht wie es in der bürgerlichen Gesellschaft eingeführt ist« (Hoffmann 1849, 144). Anton Friedrich Justus Thibauts Behauptung von 1817, wonach »ein vollendetes System des N möglich und denkbar ist, aus welchem die äußere Rechtmäßigkeit und Unrechtmäßigkeit jedes vorkommenden Falles entschieden werden kann« (135), steht Friedrich Nietzsches These von 1879 entgegen: »Es giebt weder ein N, noch ein Naturunrecht.« (Menschliches, Allzumenschliches, II.2, Aph. 31; KSA 2, 563)

Mit den voranstehenden Beispielen kontrastieren die Auffassungen von Marx: Es seien nicht naturgegebene Phänomene oder freischwebende, aus dem Jenseits geholte Gedanken des Menschen, die das jeweilige, sich entwickelnde Recht determinieren, sondern »die politische wie die bürgerliche Gesetzgebung proklamieren, protokollieren nur das Wollen der ökonomischen Verhältnisse« (Elend, 4/109); sobald der Kapitalist »dem Arbeiter den wirklichen Wert seiner Arbeitskraft zahlt«, eignet er sich als notwendiger Funktionär der kapitalistischen Produktion den Mehrwert »mit vollem Recht, d.h. dem dieser Produktionsweise entsprechenden Recht«, an (Randglossen, 19/359). Allerdings: Das Recht auf Revolution ist laut Engels »das einzige wirklich ›historische Recht‹« (7/524) und, so wiederum Marx: »Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt.« (K I, 23/249)

Geschuldet ist die bis zur Unvereinbarkeit gesteigerte Vielfalt der seit dem 5. Jh. v.u.Z. nachweisbaren N-Auffassungen – eingebunden auch in jüdischer, christlicher und islamischer Tradition (vgl. Emon/Levering/Novak 2014, 211ff) – nicht nur dem Fortschrittsprozess des Menschheitsdenkens. Es sind v.a. die innerhalb sich entwickelnder Gesellschaftsverhältnisse auftretenden gegensätzlichen Klasseninteressen, die sich in den unterschiedlichen N-Gedanken widerspiegeln. Zielen sie doch darauf, sowohl das geltende wie ein zu entwickelndes (staatlich durchsetzbares) Gewohnheits-, Gesetzes- und Gerichts-Recht zu begründen oder zu hinterfragen, zu stabilisieren oder zu kritisieren, zu konservieren, zu reformieren oder zu revolutionieren. – Die verschiedenen Behauptungen zu Existenz und Anforderungen des N bedürfen wie deren Begründungen und Wirken folglich einer historisch-konkreten Analyse.

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n/naturrecht.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/04 20:11 von christian     Nach oben
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