Inquisition
A: at-taftīš. – E: inquisition. – F: inquisition. – R: inkvizicija. – S: inquisición. – C: zōngjiào fǎtíng 宗教法庭
Roland Spur
HKWM 6/II, 2004, Spalten 1196-1209
Nicht nur die Kirche, auch der Handel hat, wie Engels sagt, »seine Kreuzzüge und seine I aufzuweisen« (…). Im Abschnitt über die »ursprüngliche Akkumulation« hat Marx den frühbürgerlichen Verbrechen nachgespürt, die zur Raffung der großen Vermögen begangen worden sind. Die seitherige Gewaltgeschichte ideologisch bemäntelter imperialistisch durchgesetzter Akkumulationsstrategien fällt kaum dahinter zurück. Doch unmetaphorisch gehören Kreuzzüge und I der römisch-katholischen Kirche, die nicht nur »der größte Grundeigentümer« im mittelalterlichen Feudalstaat, »sondern zugleich auch Teil der Staatsmacht und v.a. die Ideologieinstitution des Feudalismus schlechthin« war (Lenk 1978). Unter der Selbstbezeichnung »I« hat sie jahrhundertelang eine gerichtliche Institution zur Verfolgung von Ketzern, Hexen und Alchemisten mit besonderem Akzent auf Judenverfolgung betrieben. »Die I ist die erste planmäßig arbeitende Polizei der Neuzeit.« (Kofler 1966) Ihre eigentliche Rolle spielte sie als ›Feindabwehr‹ gegen die frühbürgerliche Revolution, die in den »revolutionären Vortruppbewegungen der städtischen Unterklassen« (…) ihre Vorläufer hatte.
Der Name ›I‹ leitet sich ab von lat. inquiro (nach etwas suchen, nachforschen, untersuchen, nach Klagebeweisen forschen; inquisitio – Befragung, Untersuchung) und hebt damit hervor, dass Inquisitoren nicht auf Klagen warteten, sondern nach Ketzereien forschten. Als formelle Institution wurde die I im 13. Jh. gegründet und in der Folge zu einem zentralen Bindeglied zwischen Kirche und Staat ausgebildet. In der katholischen Welt hielt sie sich bis ins 19. Jh. Auch im Protestantismus verfolgte man Abweichler und bekämpfte Sektierer, brachte es aber nicht zu vergleichbarer Systematik und langfristiger Kontinuität von Verfolgung, Fahndung und Folterung oder gar zu einem »Großinquisitor«.
In der mittelalterlich-frühneuzeitlichen I als ›christlich‹ legitimierter Gewalt wurden zugleich die Frühformen des modernen Rassismus und Antisemitismus durchexerziert. Die Moderne emanzipierte sie schließlich von ihren religiösen Begründungen und machte sie verfügbar für totalen Herrschaftsanspruch jeder couleur. Dieser Ausdehnung ging ein Umschlag im Verhältnis von Kirche und Staat voraus. Wenn jene diesen zunächst instrumentalisierte, so galt nunmehr nach Marx' Einsicht: »Durch die I war die Kirche vielmehr in das furchtbarste Werkzeug des Absolutismus umgewandelt worden.« (Das revolutionäre Spanien)
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