Indische Frage
A: al-masʼala al-hindīya. – E: Indian question. – F: question indienne. – R: Indijskij vopros. – S: cuestión india. – C: Yìndù wèntí 印度问题
Bastiaan Wielenga (LH, AP)
HKWM 6/II, 2004, Spalten 903-918
Die sog. iF im engeren historischen Sinn geht zurück auf die um 1790 einsetzende Auseinandersetzung in der britischen Öffentlichkeit zwischen den liberal-säkularen ›Utilitaristen‹ und den christlich-konservativen ›Evangelikalen‹ über die Festigung der britischen Herrschaft in Indien und die Aussichten auf eine Verbesserung der sozialen Situation der indischen Bevölkerung. Sie war untrennbar verknüpft mit dem Wandel der East India Company von einer (seit ihrer Gründung 1600 auch militärisch agierenden) Handelsorganisation mit umfassender königlicher Privilegierung zu einem unverhohlen militärischen und bürokratischen Instrument der britischen Regierung seit 1773 (Unterstellung der Company unter das Parlament). Im Verlauf der zunehmend erziehungspolitisch artikulierten Debatte rückte die Frage in den Mittelpunkt, ob Indien seinen ›altertümlich-asiatischen‹ Charakter (basierend auf den großen Traditionen seiner Vergangenheit samt Religion und Kastensystem) beibehalten oder dem modernen, westlich-abendländischen Kulturkreis angeschlossen werden sollte. Die Diskussion mündete in den 1830er Jahren in einen mehr als zwanzig Jahre anhaltenden Streit zwischen den sog. ›Orientalisten‹, die für die erste Lösung plädierten, und den sog. ›Anglisten‹, die unter Wortführung des Historikers und Politikers Thomas Babington Macaulay die gezielte Verwestlichung Indiens forderten (1829 Verbot der traditionell-indischen Witwenverbrennung, gefolgt vom Verbot ritueller Menschenopfer; 1835 Einführung des Englischen als Verwaltungssprache an Stelle des Persischen).
Die Gelegenheitsartikel, die Marx – und Engels – in den 1850er Jahren über Indien schreiben, beziehen sich primär auf die damaligen Parlamentsdebatten, enthalten aber darüber hinaus Überlegungen, die für eine historisch-kritische Aufarbeitung der marxistischen Kolonialismus-Kritik und eine daran anschließende Entwicklungsdiskussion von Belang sind. Zunächst gerät in diesen Artikeln der Preis des modernisierenden Fortschritts ins Blickfeld, später wird die Frage nach alternativen Fortschrittsperspektiven immer dringlicher, was zu einem nicht unerheblichen Teil eine gründliche Umorientierung dokumentiert. – Die so verstandene iF verknüpft sich in bedeutsamer Weise mit der durch Vera Sassulitsch aufgeworfenen ›russischen Frage‹, ob es für Russland nicht eine Alternative zum westeuropäischen Weg, d.h. zum Durchlaufen einer ganzen Epoche kapitalistischer Entwicklung, geben könne. Die damals revolutionsstrategisch diskutierte Frage verbindet sich spätestens seit dem letzten Viertel des 20. Jh. mit der Suche nach einer ökologisch und sozial haltbaren Entwicklungsrichtung, die an einem destruktiv globalisierenden Kapitalismus vorbei oder aus ihm heraus den Weg zu einer möglichen anderen Welt zeigt.
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