historisch-kritisch

A: tārīḫī naqdī. – E: historico-critical. – F: historique et critique. – R: istoričesko-kritičeskij. – S: histórico-crítico. – C: lishi-kaozheng de 历史-考证的

Wolfgang Fritz Haug

HKWM 6/I, 2004, Spalten 375-394

Die Verbindung von Geschichte und Kritik hat sich seit der ›griechischen Aufklärung‹, bezeugt u.a. durch die Werke von Thukydides und Aristoteles, in Schüben aus der Erzähltradition des Volkes und der Lobdichtung im Dienste der Herrschenden herausgearbeitet. Die antike Philologie und die kritische Editionspraxis der Humanisten zur Zeit der Renaissance stellten Bildungselemente bereit. Doch an die Tradition insgesamt hk heranzugehen, ist eine Errungenschaft frühbürgerlicher Intellektueller, ausgebildet in ständiger Auseinandersetzung mit Zensur und Verfolgung v.a. durch die religiösen Apparate. In Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique (1696) tritt diese Verbindung zum ersten Mal systematisch auf den Plan und eröffnet das Zeitalter der Aufklärung als »das eigentliche Zeitalter der Kritik« (Kant). Geschichte bedeutet bei Bayle noch Historie im Sinne von Überlieferung, Kritik deren Überprüfung im ›natürlichen Licht der Vernunft‹. Dieser Rationalismus bereitet den Boden für den Historismus und die wissenschaftlich (›quellenkritisch‹) betriebene Geschichte. Der marxsche und später der marxistische Geschichtsmaterialismus suchen die Geschichte durch Rekurs auf die Produktions- und Reproduktionsweise des gesellschaftlichen Lebens zu erklären.

Wie einmal das Christentum im Zuge seiner Staatswerdung (»konstantinische Wende«) einem ideologischen Staatsapparat anheimgefallen ist, der »den Autoritätsverhältnissen im Umgang mit den Ideen und Überlieferungen eiserne Strukturen und ein Zentrum gab« (KWM 1), so der kommunistische Marxismus an der Macht. Dessen ideologische Apparate agierten auf dem Höhepunkt des unter Stalin geschaffenen ›befehlsadministrativen‹ Regimes in ihrem »machtkontrollierten Zurechtlegen und Verschweigen« (…) wie eine »Hauptverwaltung Ewige Wahrheiten« (Havemann 1971). Wieder musste dem kritischen Verhältnis zur eigenen Geschichte und dem historischen Verhältnis zu den eigenen Theorien der Status eines selbstverständlichen Rechts, ja der Pflicht eines jeden Marxisten erkämpft werden. Im europäischen Staatssozialismus des 20. Jh. waren es zuletzt die fünf Jahre der Perestrojka, des Demokratisierungsversuchs unter Gorbatschow, in denen die Individuen in diesem Sinn freigesetzt wurden. Der Zusammenbruch des europäischen Staatssozialismus »beförderte einen ›epistemologischen Einschnitt‹ und einen Historisierungsschub«, was dem HK für Marxisten »eine nachdrückliche Aktualität« aufgeprägt hat: »Dabei geht es einerseits um die kritische (und selbstkritische) Auswertung historischer Erfahrungen, andererseits um die wissenschaftliche Sichtung, Erschließung und kritische Durcharbeitung eines enormen Gedankenmaterials.« (HKWM 1, Vorwort)

Aufklärung, Autorität, befehlsadministratives System, Dialektik, Dogmatismus, Engelsismus, Enzyklopädie, Epistemologie, Ewigkeit, Fehler, Feuerbach-Thesen, Geistesgeschichte, Geisteswissenschaften, Geschichte, Grenzen der Dialektik, Hermeneutik, Historische Rechtsschule, Historisches/Logisches, Historisierung, Historismus, Ideologiekritik, Ideologietheorie, Interpretation, Irrationalität des Kapitalismus, Irrtum, Jenseits/Diesseits, Kritik, Marxismus Leninismus, materialistische Bibellektüre, MEGA, Rationalismus, Rekonstruktion, Religionskritik, rettende Kritik, Stalinismus, Text, Tod, Tradition, Vergessen/Erinnern, Vernunft, Zensur

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