Hoffnungslosigkeit
A: al-ya’s. – E: hopelessness. – F: désespérance, désespoir. – R: beznadjožnost’ otčajanie, bezyschodnost’. – S: desesperación. – C: juewang 绝望
Christina Thürmer-Rohr (I.), Wolfgang Fritz Haug (II.)
HKWM 6/I, 2004, Spalten 469-484
I. Hoffnung ist auf Zukunft aus. Deswegen ist die Suche nach Niederschlägen der H in Dokumenten christlichen und marxistischen Denkens nicht besonders ertragreich. Die Hoffnungslosen verkörpern nicht nur das Leiden an hoffnungslosen Verhältnissen, sondern auch die Renitenz gegenüber allen Aussichten auf deren Veränderung. Ist die überirdische Zukunft mit Veränderungsversprechen oder die irdische Zukunft mit Veränderungsaufforderungen angefüllt, wird Hoffnungslosigkeit zum Sakrileg. Aller Abwehr zum Trotz hat sich die abendländische Geschichte ihrer hoffnungslosen Kandidaten und des hoffnungslosen Denkens nie ganz entledigen können. Zum existenziellen Thema ist die H aber erst geworden, seit das christliche wie das säkularisierte Heilsdenken, diese stärksten Widerstände gegen den Pessimismus, entmythologisiert worden sind und – mit dem Wort Ludwig Marcuses (1981) – in eine »unbekleidete Welt« führten. Enttäuschung und H wurden zum Kontrapunkt der Moderne, zum Grundakkord postmoderner Verfassung und rückten als Kehrseite des modernen Zukunftsoptimismus vom Rand ins Zentrum der Gesellschaft (vgl. Böhme 1992).
II. »Um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben.« Walter Benjamins Schluss-Satz aus dem Wahlverwandtschaften-Essay (…) legt die Situation hoffnungsloser Menschen und das Nachdenken über H auseinander. Eine philosophische Überhöhung von H kommt für ihn nicht in Frage. Wo Hoffnung als Motiv im Griff einer ideologischen Macht fungiert, mag die Verkündung von H zum Sakrileg werden. Doch die Heroisierung des ›Ausharrens im Sinn- und Auswegslosen‹, die sagt, dass jeder Widerstand gegen eine solche Macht zwecklos ist, ist nicht davor gefeit, selbst zur Aufrechterhaltung von Herrschaft in Dienst genommen zu werden. Dies gilt erst recht dann, wenn im Sicheren und Freien das Bild der Gefangenen beschworen wird, um es zum Sinnbild der Sinnlosigkeit zu machen. Wenn die gegen ihre Unterdrückung Aufbegehrenden sich endgültig entmutigen lassen, haben die Herrschenden gewonnen. Wer nichts mehr zu verlieren hat als seine Ketten, wird anders denken. »Gefangene denken an Befreiung«, heißt es bei Brecht. Was wäre, wenn sie an Befreiungslosigkeit glaubten? Denn die H ist keineswegs glaublos. Wer das Un im Unglauben zu sehr hochhält, glaubt daran. - Ideologie und Kulturindustrie arbeiten periodisch daran, H zu ästhetisieren und als Weltverhältnis konsumierbar zu machen. »Kommt das Kino der H?«, fragte Wilfried Wiegand in einem Bericht über die Filmfestspiele in Cannes von 1973 und antwortete: »die Fülle der Gewalt-Themen […] wie auch die noch immer andauernde ›Nostalgie‹-Welle sind Zeichen einer großen H, so als wäre der Mensch übermächtigen Gewalten ausgeliefert« (zit.n. Haug 1991).
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