Macht

A: sulṭa. – E: power. – F: pouvoir, puissance. – R: vlast’. – S: poder. – C: quánlì 权力

Werner Goldschmidt (I.), Jan Rehmann (II.), Birgit Sauer (III.)

HKWM 8/II, 2015, Spalten 1485-1541

I. Wer die Welt nicht nur »interpretieren«, sondern auch »verändern« will (ThF, 3/7), muss seine Möglichkeiten realistisch einschätzen und über die dazu erforderlichen Mittel verfügen – kurz, er muss M besitzen oder wenigstens wissen, wie man sie erlangt. »In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit, i.e. Wirklichkeit und M, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen.« (5) Nahezu alle scheinen zu wissen, was M ist. Die meisten erfahren sie als eine äußere, zwingende Kraft, der sie sich nicht entziehen können und der sie selbst ›ohnmächtig‹ gegenübertreten. Nur ausnahmsweise erfahren sie ihre eigene M positiv, etwa im individuell-spontanen Widerstand gegen die Willkür von Eltern, Lehrern, Vorgesetzten, Behörden oder im gemeinsam-organisierten Widerstand gegen empörende oder als unzureichend empfundene Arbeits- und Lohnbedingungen (etwa im Streik). Dann erweist sich M nicht nur als fremde und unterdrückende, sondern auch als eigene und/oder gemeinsame, potenziell befreiende Kraft. Die Etymologie verweist auf gotisch magan, Können oder Vermögen (ähnlich in den auf lat. potentia zurückgehenden romanischen Sprachen und im Englischen), sodass M definiert werden konnte als »Kraft oder Vermögen, das Mögliche wirklich zu machen« (HWPh 5, 585).

Dass die begrifflich-theoretische Fassung von M sich als schwierig erweist, ist häufig gesagt worden. Gerhard Göhler zufolge haben die Debatten um Hannah Arendt, Michel Foucault und Pierre Bourdieu bewirkt, dass die lange auf Herrschaftsverhältnisse konzentrierten Politikwissenschaften sich nicht mehr nur mit ›M über‹, sondern auch mit ›M zu‹ befassen. Dadurch erscheine es aber noch »schwieriger, aus den verschiedenartigen Ansätzen ein Gesamtbild der M zusammenzusetzen« (2011, 224). M zählt zu den am häufigsten gebrauchten Termini in den Sozialwissenschaften. Bertrand Russell hielt M für den »Fundamentalbegriff der Gesellschaftswissenschaften« (1938/2009, 11), vergleichbar dem Begriff der Kraft in der Physik. Am prominentesten ist Max Webers Bestimmung, M bedeute »jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht […]. Der Begriff ›M‹ ist soziologisch amorph.« (WuG, Tl. 1, Kap. I, §16) Obwohl die Defizite dieser Definition auf der Hand liegen – erscheint in ihr doch bloß der Überschuss der einen Seite gegenüber der anderen als M –, eröffnet sie eine Perspektive, die sie für eine marxistische M-Forschung interessant macht: Weber spricht vom »Widerstreben«, ohne diesem eigene M-Qualitäten zuzubilligen. Begreift man dieses als Ausdruck von Gegen-M, kann M als prozessierendes Verhältnis zwischen zwei (oder mehreren) Polen, als Kampf zwischen M und Gegen-M, d.h. zwischen – in der Regel asymmetrischen – Mächten auf einem »Feld der M« (Bourdieu 1989/2004, 317) begriffen werden. M erscheint dann nicht nur negativ als unterdrückende, sondern auch positiv als (potenziell) befreiende Kraft. – Bei Marx und Engels sind die Ausdrücke M, Gewalt, Herrschaft, Autorität nicht streng unterschieden, z.T. austauschbar. Auch wenn »Marx, Engels, Lenin und Gramsci keinen theoretischen M-Begriff entwickelt haben« (Poulantzas 1968/1975, 97), lässt sich aus ihren Texten eine materialistische Theorie der M rekonstruieren.

M steht im Zentrum der Politik. Als institutionalisierte konstituiert sie alle Arten von Herrschaftsverhältnissen bis hin zum Staat, als prozessierende ist sie in jeder Art von sozialem Konflikt enthalten bis hin zum politischen Kampf um die M im Staat. M und Konflikt durchziehen die Gesamtheit der menschlichen Beziehungen, private wie öffentliche, wirtschaftliche wie kulturelle. Eine kritisch-materialistische Konzeption von M darf nicht auf die spätestens seit dem 19. Jh. verbreitete Dämonisierung der M hinauslaufen, dass M »an sich böse« sei (Burckhardt 1949, 61). Sie darf nicht negativ auf das Streben nach ›M über‹, d.h. auf Herrschaft reduziert, sondern muss immer auch positiv als ›M zu‹ begriffen werden, und zwar in zumindest zwei weiteren Dimensionen: als M zur Befreiung und zur Gestaltung der befreiten Gesellschaft. Es war v.a. das Verdienst von Arendt (1958 u. 1970), die Dimensionen der ›M zu‹ als Handlungs-M in Erinnerung zu rufen. John Holloways Vision einer Veränderung der Welt, »ohne die M zu übernehmen« (2002), verkennt diese Mehrdimensionalität und erweist sich mit der Reduktion von M auf Herrschaft als hyperkritisch und praktisch ohnmächtig.

II. Obwohl Michel Foucault in den verschiedenen Phasen seiner Theorie unter M Unterschiedliches begreift, ist er durchgängig von Nietzsches Philosophie geprägt, die wegen ihrer Kritik der traditionellen Metaphysik, des Humanismus und des Subjekts in Frankreich seit Mitte des 20. Jh. von vielen Intellektuellen als ›radikale‹ Alternative zum Marxismus rezipiert wurde. Hatte der ›mittlere‹ Nietzsche sich noch auf Spinozas Begriff der »Selbsterhaltung« berufen (KSA 2, 95), verwandte er erstmals 1882 in Vorbereitung des Zarathustra den Begriff des »Willens zur M« (KSA 10, 187), der von nun an sein Spätwerk bestimmt. Während Spinozas Begriff der Handlungs-M (potentia agendi) die Aspekte kooperativer Handlungsfähigkeit hervorhebt, erhält Nietzsches »Wille zur M« die Funktion, die Tendenzen des »Überwältigens, Herrwerdens« über weniger Mächtiges (KSA 5, 313f), der »Unterdrückung«, »Vergewaltigung«, »Ausbeutung« zusammenzufassen und ins »Wesen des Lebendigen« überhaupt zu verlegen (208; KSA 13, 258; vgl. Rehmann 2014, 222ff). Foucault interessiert sich bes. dafür, wie Nietzsche den »Willen zur M« mit dem »Willen zur Wahrheit« verknüpft, den er als zentrales Vehikel seiner Durchsetzung behandelt: »Auch du, Erkennender, bist nur ein Pfad und Fußstapfen« dieses Willens zur M, der wiederum »auf den Füßen deines Willens zur Wahrheit [wandelt]«, heißt es im Zarathustra (KSA 4, 148). Foucault, der sich in der Ordnung der Dinge (1966) und der Archäologie des Wissens (1969) historisch und theoretisch mit diskursiven Ordnungen des »Wissens« beschäftigt hat, veranstaltet 1970/71 einen Kurs über Nietzsches »Wille zum Wissen« und konzentriert sich von nun an auf die innere Verbindung von Wissensordnungen, Wahrheitsproduktionen und M. Diese Verbindung bleibt auch später zentral, wenn Foucault seinen Begriff der M von dem der Herrschaft absetzt und für Aspekte der ›Selbstführung‹ öffnet.

III. Feminismus. – Das feministische Verständnis von M war von Beginn an mit der Vision eines herrschafts- und gewaltfreien guten Lebens aller Menschen verknüpft. In der zweiten Frauenbewegung war der »M-Verdacht« (Popitz 1992, 16) gegenüber intimen Beziehungen zwischen den Geschlechtern ein wichtiger Schritt, um den männlichen Herrschaftsmissbrauch in sozialen Nahbeziehungen zu politisieren und die Herrschaftsförmigkeit von Geschlechterverhältnissen generell zu thematisieren. Das Motto »Das Persönliche ist politisch« skandalisierte das bürgerliche Trennungsdispositiv zwischen öffentlich und privat, zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit sowie »zwischen Liebe und M« (Klinger 2004, 92). Aus der Kritik am Privaten erschloss sich die Kritik an einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, an Herrschaft am Erwerbsarbeitsplatz sowie am Ausschluss aus politischen und ökonomischen Entscheidungspositionen (Haug 1993). Indem Geschlecht verstanden wurde als »primary field within which or by means of which power is articulated« (Scott 1986, 1065), wurde M zu einem »central concept for feminist theory« (Allen 2011).

Feministische Begriffsverwendungen unterscheiden in der Regel zwischen M (»power to«) und Herrschaft (»power over«) (Allen 1998, 37). Während M positiv und produktiv als Potenzial bzw. Ermächtigung zum Handeln gesehen wird, gilt Herrschaft als ungerechte, unterdrückerische Form der M, die auf Asymmetrie und Hierarchie beruht (Klinger 2004, 88). Dem teilweise an Max Weber angelehnten Herrschaftsbegriff – als Kombination von Befehl, Unterordnung, Gehorsam und Gehorchen (vgl. WuG, Tl. 1, Kap. I, §16) – wurde das Konzept der »strukturellen Gewalt« als Verhinderung von Lebenschancen (Galtung 1981) angenähert. Bereits 1981 betonte Frigga Haug die »Überlagerung von Herrschaftsstrukturen«, die es bei der Analyse von Geschlechterverhältnissen zu bedenken gelte (1996, 167). Später ging feministische Theorie von einer Multiplizität von Herrschaftsverhältnissen und -strukturen aus. Iris Marion Youngs Differenzierung von »fünf Gesichtern« der Unterdrückung systematisiert diese Vielfalt der Orte und Modi von Geschlechterherrschaft als Ausbeutung (im Feld der Arbeit), Kulturimperialismus (im Bereich von Repräsentation), Marginalisierung (in Bezug auf soziale Rechte), Machtlosigkeit (im politischen Feld) und als Gewalt (1990/1996, 126f). Die Frauenbewegungen griffen seit den späten 1970er Jahren die Gewaltdebatte auf und skandalisierten Gewalt im familiären Nahraum (vgl. Sauer 2011). Allerdings begreift feministische Theorie seit den 1980er Jahren Frauen nicht nur als ohnmächtig und männlicher Herrschaft schutzlos ausgeliefert, sondern konzeptualisiert auch die »M-Strategien von Frauen« im komplexen Herrschaftssetting (Maltry 1998, 301). Anna Yeatman unterscheidet daher drei wichtige, gleichwohl ambivalente Stränge der feministischen M-Debatte: M als Vermögen, also ein »feminist counter-discourse of women as subjects of power«, M als Zwang, Herrschaft und Gewalt sowie M als Schutz von Frauen durch den Staat (1997, 146-54).

Cornelia Klinger argumentiert, dass die feministischen Diskussionen um Geschlecht und M zwar eine »Verfeinerung der M-Analyse« ermöglichten, dies aber »zulasten der Herrschaftsanalyse« erfolgte (2004, 103). Dies führt zu der Frage, wie eine herrschaftskritische feministische Position durch die Kombination von materialistischen Konzepten mit dekonstruktivistischen Annahmen von Subjektivierung in einem staats- und hegemonietheoretischen Konzept neu belebt werden kann.

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