Metropole

A: madīna al-kabīra. – E: metropole. – F: métropole. – R: metropolija. – S: metrópolis. – C: dà dūshì 大都市

Ruth May

HKWM 9/I, 2018, Spalten 819-834

Die M ist eine Stadt, die sich zu einem beherrschenden politischen, ökonomischen und kulturellen Zentrum entwickelt hat und ein hegemoniales Vorbild setzt. Wörtlich »Mutterstadt« (gr. μήτηρ und πόλις), bezieht sich M zunächst »auf das Verhältnis einer Kolonie zum Herkunftsort der Kolonisten« (Mieg 2012, 11). Als Stadt, aus der koloniale Neugründungen hervorgehen, schafft sie sich eine Peripherie, die ihr Macht und Mittel zuführt, mit denen sie sich nach Innen und gegenüber rivalisierenden Zentren behauptet.

Der Aufstieg zur M ist in der Zentralfunktion einer jeden Stadt angelegt, sie kann – wie z.B. die antike M Syrakus – auch wieder bedeutungslos werden. Macht und Herrschaft, die von ihr ausgehen, sind historisch je spezifisch, aber auch umstritten und mehrdeutig. Mit Blick auf die Dominanz des kapitalistischen Zentrums spricht Marx von England als »M des Kapitals« (an Meyer u. Vogt, 9.4.1870, 32/669). Als Sitz von Machteliten und Kommandozentrale, Ort der Akkumulation von Reichtum und Zentrum neuesten Wissens prägt die M einen Zivilisationstypus, der das Land und die Welt durch Zustimmung ebenso wie durch Zwang beherrscht. Ihre Zivilität hat die Rohheit der Aneignung andernorts zur Voraussetzung, sei es in Form kriegerischer Aneignung von Ländereien und Bodenschätzen, sei es in Form kapitalistischer Abschöpfung von Mehrwert oder, mit Rosa Luxemburg, als andauerndes Verhältnis der Aneignung und Ausbeutung, da »der Kapitalismus auch in seiner vollen Reife […] auf die gleichzeitige Existenz nichtkapitalistischer Schichten und Gesellschaften angewiesen ist« (Akku, GW 5, 313f).

M.n prägen einen Zusammenhang von Herrschaft und Raumordnung aus; sie bilden eigene »Ordnungsmuster repräsentierende« Stadtgestalten über »dominierende, sinnfällige, repräsentative Architekturen […], komplexe, technisch extrem aufwändige Infrastrukturen und umfassend ausdifferenzierte, variantenreiche öffentliche Räume« (Reif 2006, 3). Damit schaffen sie funktional die Raumbeherrschung, symbolisch eine Repäsentation des Herrschafts- bzw. Zivilisationstypus. Symbolisierten die Türme des World Trade Center die Weltgeltung von New York, so verdeutlicht der 11. September 2001, dass die Macht der M diese zugleich zum Angriffspunkt von Gegenkräften macht. Die biblische Geschichte vom Turmbau zu Babel lässt sich auch als Sinnbild fürs Scheitern des hegemonialen Anspruchs einer M lesen.

Von der M gehen mithin Raum- und Zeitkonzepte aus, denen sie alle Welt zu unterwerfen sucht. David Harvey weist darauf hin, dass neue Formen der Zeitmessung und Kartierung an der Wiege des Kapitalismus stehen. Zeit ist entscheidend, weil die Verkürzung der »Umschlagzeit des Kapitals« ein »machtvolles Konkurrenzmittel« darstellt (1990/2007, 47). Die »Eliminierung aller räumlichen Barrieren« ist »für die gesamte Akkumulationsdynamik essenziell«, die »Absorption überschüssigen Kapitals […] mittels geographischer Expansion« zugleich eine bewährte kapitalistische Krisenstrategie (ebd.).

Aufgrund ihrer Zerstörungs- und Veränderungsmacht häufig als »Moloch« mystifiziert, entwickelt die M eine Dynamik, die das äußere Verhältnis von Zentrum und Peripherie als innere Ungleichheit wiederholt. So gilt für sie, was Hanns Eisler im Lied Hollywood (nach Brechts Hollywood-Elegien, GW 10, 849f) komprimiert: »Diese Stadt hat mich belehrt / Paradies und Hölle können eine Stadt sein. / Für die Mittellosen ist / Das Paradies die Hölle.« – Für die Herrschenden ist die M zugleich ein unberechenbarer Ort, denn hier bilden sich neue soziale Gruppen und Bewegungen aus, die ›die Stadt‹ und ›die Welt‹ für sich reklamieren. Als Ort des Protests, des Umsturzes und der Hervorbringung eines neuen Typus der Zivilisation ist sie beständigen Umdeutungen ausgesetzt.

Akkumulation, Antikolonialismus, Arbeitsteilung, Armut/Reichtum, Dependenztheorie, Finanzkapital, Freizeit, englische Revolution, Gegenmacht, globale Stadt, Globalisierung, Globalisierungskritik, Handel, Handelskapital, Haus, Hegemonie, Hierarchie/Antihierarchie, Imperialismus, Imperium, innerer Kolonialismus, Inwertsetzung, Irische Frage, Kapitalismus, koloniale Produktionsweise, Kolonialismus, Kommandohöhen, Kommodifizierung, Kommunalpolitik, Kommune, Konzentration und Zentralisation des Kapitals, Kosmopolitismus (antiker), Kosmopolitismus (moderner), Kultur, Landnahme, Landschaft, Markt, Marktfrauen, Merkantilismus, Miete, Migration, Mobilität, Moloch, Modernisierung, Neue Ökonomische Politik, Neue Soziale Bewegungen, Nord-Süd-Konflikt, öffentliche Güter, Öffentlichkeit, Oktoberrevolution, Pariser Kommune, Peripherie/Zentrum, Prekariat, Proletariat, Raum, Reichtum, Rotes Wien, Spekulation, Stadt, Stadt/Land, Städtebau, Städtewesen, Stadtguerilla, symbolische Ordnung, ungleiche Entwicklung, Urbanität, Vergesellschaftung, Weltmarkt, Weltwirtschaft, Wohnungsfrage, Zentralisierung

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m/metropole.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/11 14:18 von christian     Nach oben
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