Möglichkeit
A: ’imkānīya. – E: possibility. – F: possibilité. – R: vozmožnost’. – S: posibilidad. – C: kěnéngxìng 可能性
Wolfgang Fritz Haug (I.), Daniel Queiser (II.), Jan Rehmann (III.), Frigga Haug, Christian Wille (IV.)
HKWM 9/II, 2024, Spalten 1216-1278
I. Zum hundertsten Todesjahr von Marx, 1983, zeichnete der sozialdemokratische Marxist Peter von Oertzen die Parallelen von Marx und Max Weber in der Einschätzung »historisch-politischer M« nach. Den Unterschied zwischen beiden macht er daran fest, dass Marx und der Marxismus die Gesellschaft unterm Aspekt »ihrer möglichen Veränderbarkeit« analysierten, während Weber angesichts des »stählernen Gehäuses«, das er im rationalisierten Industrie-Kapitalismus sich um die Gesellschaft schließen sah, bei der »stoischen Haltung einer illusionslosen Pflichterfüllung« Zuflucht gesucht habe (1983, 183). Der marxsche Weg erfordere nun aber »konkrete objektive M.en, deren Inhalte und Grenzen durch die empirisch begründete, wissenschaftliche Gesellschaftskritik« feststellbar sein müssten (ebd.). Demgemäß sei lange Zeit »die Idee einer neuen, der sozialistischen Gesellschaftsordnung eine Utopie« geblieben, doch dank der »ungeheuerlichen« Steigerung der Produktivität menschlicher Arbeit sei sie »– wenigstens ökonomisch betrachtet – heute in den industriell fortgeschrittenen Ländern […] zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte wirklich möglich«, d.h. »eine ›objektive M‹« geworden (184f).
Der sprachkritisch philosophierende Fritz Mauthner hat nun allerdings 1910, zur Zeit des ersten Wiener Kreises, vor einem unkritischen Gebrauch des Terminus M gewarnt. Mit diesem stehe es wie mit der »Willensfreiheit«, die letztlich, vermittelt über das »Menschengefühl der eigenen Muskelkraft«, eine »normale Illusion […] wie das Ichgefühl« sei (Bd. 2, 24f). Entsprechend spiele in den alltäglichen Sprachgebrauch »der überaus schwierige Begriff der M […] wunderlich genug […] hinein«; dies »gestattet uns Sätze wie: Ich möchte, was nicht möglich ist« (25).
Formt man jedoch mit Ludwig Wittgenstein die Frage nach der Bedeutung eines Ausdrucks um in die nach seinem Gebrauch (PhU, WA 2, 43), zeigt sich im Alltag die Rede von M.en und ihrem Gegenteil – als Bindeglieder zwischen Plan und dem, was ›geht‹ oder eben ›nicht geht‹ – ebenso unentbehrlich wie die Beschwörung von Not-Wendigkeit. Jedenfalls gibt der vom vieldeutigen Wort M mit-signalisierte Sinn der Verwirklichbarkeit den Schlüssel zum geschichtsmaterialistischen Interesse am M-Denken in die Hand, dem metaphysische Spekulation nicht weiterhilft.
Ein Rückblick auf die Inkubationsphase der deutschen Arbeiterbewegung, in der Marx und Engels ihre politisch-theoretischen Auffassungen ausbildeten und ihre Karrieren begründeten, vermittelt einen Begriff davon, was es für den sich herausbildenden Marxismus mit der M in Wirklichkeit geschichtlich auf sich haben musste. Bald zweihundert Jahre später verhält es sich für Marxisten allen weltgeschichtlichen Umbrüchen zum Trotz nicht ganz anders. Nur dass neben die zu verwirklichende Utopie die zu verhindernde Dystopie getreten ist. Solche Negation eines Negativen mitzuleisten ist der positiven Perspektive aufgetragen.
Wenn der gesellschaftlich-produktive Stoffwechsel mit der Natur und seine tätige Vermittlung, die Arbeit, bzw. das reproduktive Zusammenwirken der »beiden Urbildner des Reichtums, Arbeitskraft und Erde« (Marx, K I, 23/630), geschichtsmaterialistisch als allgemeine Lebensbedingung der menschlichen Gattung und zugleich als Grundlage einer solidarischen Gesellschaftlichkeit im Ausgleich mit den Naturbedingungen begriffen werden, öffnet sich ein Feld von M.en und Verwirklichungsaufgaben.
II. Philosophiegeschichte bis Hegel. – Obschon seit der Antike zu ihren gebräuchlichen Kategorien zählend, ist M bis ins 20. Jh. ein eher vernachlässigter Begriff der abendländischen Philosophiegeschichte. Sie überhaupt zu denken, widerspricht der wirkmächtigen Ansicht des Parmenides von Elea, dass es außer dem Seienden nichts gebe und dass dieses Seiende un-geworden (ἀγένητον) und unveränderlich (ἀκίνητον) sei (DK 28, B 8). So wurden »die frei herumlaufenden ›M.en‹« (Hartmann 1938/1949, 6) von der Systemphilosophie oftmals entweder gänzlich »zur ›Fiktion‹ entwirklicht« (Bloch, PH, 279) oder als problematisches »Halbseiendes« gefasst (Hartmann 1938/1949, 6), das im Begriff auf eine vermeintlich ›vollseiende‹ Wirklichkeit zurückzuführen wäre (vgl. Bloch, PH, 278-84).
In der elementaren zwischenmenschlichen Kommunikation – und für ein darauf fußendes praktisch-dialektisches Weltverständnis – ist M hingegen ein unverzichtbarer Terminus. Verstanden als Modus des Seins, ist M die notwendige Voraussetzung für das, was bei Parmenides zum bloßen »Namen« degradiert werden soll: nämlich die beobachtbare Veränderung aller Dinge, ihre konstitutive Prozesshaftigkeit (DK 28, B 8). Veränderung aber bedeutet Negation des Bestehenden. Die philosophischen Kategorienlehren der altindischen Systeme des Nyāya und des Vaiśeṣika, die den M-Begriff nicht kennen, versuchen das mit ihm Gemeinte daher als die »Nichtexistenz« einer Form oder Qualität zu fassen, die einem Ding als positive Eigenschaft zugesprochen wird (Chattopadhyaya 1964/1975, 186f). Der »Übergang von einer Sache in eine neue Form« kann dann als »Aktivierung der entsprechenden Nichtexistenz« begriffen werden (Niemeyer 2021, 114). Das ›nichtseiende‹ Mögliche ist dergestalt kein eleatisches Nichts, sondern eine den Dingen innewohnende, reale Wandel- und Umgestaltbarkeit. Robert Musil hat diese immanenten Vermögen als »wirkliche M.en« bezeichnet und sie vom »Gespinst« aus »Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven« einer »möglichen Wirklichkeit« abgegrenzt (1930/1978, 16f).
Ein solcher Begriff von Real-M, zentrales Element einer Ontologie des Werdens, erlaubt es mit Marx und Engels, die praktische Veränderbarkeit der Welt zu denken. Er bildet den Fluchtpunkt der folgenden Rekonstruktion, die – geschichtsmaterialistisch informiert – nach historischen Anknüpfungspunkten für dieses M-Verständnis sucht. Wie jede philosophische Reflexion ist auch die über M stets geprägt von der Stellung der Philosophierenden in den gesellschaftlichen Kämpfen ihrer Zeit; auf welche Weise die Kategorie gebraucht wird, muss immer auch als Antwort auf objektive Problem- und Krisensituationen verstanden werden. So gilt es, bes. die Brüche und Umbesetzungen im M-Diskurs sichtbar zu machen, in denen das Verhältnis von M zu anderen Grundbegriffen wie Wirklichkeit, Notwendigkeit, Zufall oder Kontingenz jeweils neu verhandelt wird. Dabei sind die philosophischen Kampfplätze auszuleuchten, auf denen der Begriff – eingebunden in Debatten über Willensfreiheit, Materietheorie oder das Praxis- und Geschichtsverständnis – gegen die Versuche seiner Abschaffung verteidigt wird.
III. Marxismus. – Mit der Gründung der Zweiten Internationale im Juli 1889 erfolgte offiziell die Fusion zwischen Marx’ und Engels’ Theorie und der internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung. Engels spricht 1895 von der Verbindung zwischen »der einen allgemein anerkannten […] Theorie von Marx« und der »einen großen internationalen Armee von Sozialisten, unaufhaltsam vorschreitend, täglich wachsend an Zahl, Organisation, Disziplin, Einsicht und Siegesgewissheit« (22/515). Derartige Einheitsbilder von Theorie und Bewegung werden sich aufgrund der vielfältigen, sowohl theoretischen als auch politischen Widersprüche des sich herausbildenden Marxismus (vgl. Haug 2015, 1847ff) als unrealistisch erweisen. Aber der rasche Aufstieg der sozialistischen Arbeiterparteien, zumal der sich als marxistisch verstehenden Sozialdemokratie im deutschen Kaiserreich, schien zunächst die M eines Übergangs zum Sozialismus in greifbare Nähe zu rücken, wobei die Vorstellungen über den Charakter dieses Übergangs sich zunehmend polarisierten (graduelles Hineinwachsen vs. revolutionäre Umwälzung).
Spätestens mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 und der Zustimmung zu den Kriegskrediten durch die Führung der SPD wurde der sozialistische Internationalismus vom nationalen Chauvinismus überwältigt. Entlang der Friedensfrage und der Stellung zum Staat spaltete sich die Arbeiterbewegung in einen kommunistischen und einen sozialdemokratischen Teil, was später zur Ermöglichung des Faschismus in Europa beitragen sollte. Während die Oktoberrevolution in Russland unter Führung der Bolschewiki siegreich war – wobei das Land im Kampf gegen die Intervention der fortgeschrittenen Länder des Kapitalismus sowie im anschließenden Bürgerkrieg ausblutete –, wurden die Revolutionsversuche in Westeuropa niedergeschlagen. Die nach dem Vorbild der russischen Oktoberrevolution als »Bewegungskrieg« konzipierten Frontalangriffe auf die Machtzentren blieben dabei im ›Grabensystem‹ der westeuropäischen Zivilgesellschaften stecken (vgl. Gramsci, Gef, H. 7, §16, 874). Erneut und auf neue, dramatische Weise erfuhr die Arbeiterbewegung, dass die Niederlage eine der M.en ist, die zur Realität werden kann. Dass sich die Revolution gerade in den Zentren des Kapitals als unmöglich erwies, definiert die hegemoniale Konstellation, in der sich nach dem Ersten Weltkrieg neue theoretische Zugriffe auf den Begriff der M sowie auf die konkreten M.en gesellschaftlicher Transformation herausbildeten.
IV. Kritische Psychologie. – In der als marxistische Subjektwissenschaft begründeten Kritischen Psychologie der Gruppe um Klaus Holzkamp und Ute Holzkamp-Osterkamp, die sich auf die Naturgeschichte des Psychischen des Biologen Volker Schurig (1975; vgl. Holzkamp/Schurig 1973) sowie dessen Rekonstruktion der Entstehung des Bewusstseins (1976) und seine Überlegungen zu den »Grenzen der sprachlichen Transformation psychologischer Schlüsselbegriffe« (1987) stützt, wird die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen von Handlungen und der Verfügung über dieselben – und somit generell das »Möglichkeitsdenken« – zum Ankerpunkt für den Leitbegriff der Handlungsfähigkeit und das Praktischwerden von Wissenschaft und Forschung.
Angeregt durch die marxsche Analyse der »industriellen Pathologie« (K I, 23/384; vgl. Oppolzer 2004), die, beginnend mit der Manufaktur als Frühform des industriellen Kapitalismus, »den Arbeiter in eine Abnormität [verkrüppelt], indem sie sein Detailgeschick treibhausmäßig fördert durch Unterdrückung einer Welt von produktiven Trieben und Anlagen« (23/381), geht es der Kritischen Psychologie darum, auch unter restringierenden Bedingungen gesellschaftliche »Handlungsfähigkeit« (Holzkamp, GdP, 241ff u. 370ff) zu fördern. Sie orientiert die Einzelnen darauf, vermittels »Aufhebung der Vereinzelung in der bewussten Solidarität mit anderen in gleicher Klassenlage« (SE, 409) ihre Handlungsfähigkeit zu erweitern, eine Praxis, in der zugleich die Erkenntnis über die Zusammenhänge wächst.
Die gesellschaftliche Praxis der Individuen schafft nach Holzkamps Verständnis einen »Möglichkeitsraum« (GdP, 368 u.ö.), in dem sie sich ihr menschliches Leben aneignen, wobei sie darauf angewiesen sind, gemeinsam-vorsorgend über die relevanten Lebensbedingungen zu verfügen (354). Jeder Schritt in Richtung einer Erweiterung der Handlungsfähigkeit setzt dabei »einen aus existenzieller Betroffenheit erwachsenen ›Bruch‹ mit der bisherigen Lebenspraxis« (400), also das Verlassen ihrer gesicherten Position voraus, um zu neuer Sicherheit zu gelangen, sowohl im Denken als auch im Handeln bzw. Sich-Verhalten. Die entscheidende Frage lautet, »›wie‹ – mit welchen Mitteln, aufgrund welcher Erweiterungen der Bündnisbasis mit welcher Zeitperspektive – die immer bestehenden M.en gemeinsamer Erweiterung der Bedingungsverfügung […] realisiert werden können« (400f).
Dieses »begreifende ›Möglichkeitsdenken‹« (400) entfaltet Holzkamp in einer Reihe begrifflicher Neuschöpfungen – wie »Möglichkeitsbeziehung«, »Möglichkeitsraum« und »Möglichkeitsverallgemeinerung« – an verschiedenen Stellen auf über 100 Seiten seiner Grundlegung der Psychologie (1983). Das Komplizierte an diesem Denken und seiner Darstellung ist, dass Holzkamp bei seinem entwickelnden Vorgehen auf jeder Stufe neue Begriffe prägt (die bei ihm allerdings als »Kategorien« firmieren, während Kategorien für Marx, dem der griechische Wortsinn präsent ist, in Bezug auf je konkret bestimmte Gesellschaften deren »Daseinsformen, Existenzbestimmungen, oft nur einzelne Seiten […] ausdrücken«; Einl 57, 42/40). Seine als Kategorien firmierenden Begriffe setzt Holzkamp fortan voraus, ohne sie systematisch mit vergleichbaren Forschungen und Theorien in Verbindung zu bringen. Das bedeutet für die Aneignung und Vermittlung eine zusätzliche Aufgabe, vergleichbar mit dem Lernen und Lehren einer Fremdsprache.
Die Suche nach einer neuen Sprache rührt auch aus der spezifischen Entstehungsgeschichte der Kritischen Psychologie. Letztere wurde möglich in den Aufbruchsjahren der Studentenbewegung um 1968 und begünstigt durch die anschließenden staatlichen Einhegungspraxen seitens der sozialdemokratisch regierten BRD und des bis zu einem gewissen Grad eigenständigen, formal unter Aufsicht des »Kontrollrats« der vier Besatzungsmächte stehenden West-Berlin. Der psychologische Fachbereich der FU Berlin wurde 1970 kurzerhand geteilt und den ›Unruhestiftern‹ ein eigenes Institut am Rande der allgemeinen Ausbildung überantwortet (vgl. dazu die in ihrem Möglichkeitshorizont wie aus einer anderen Welt wirkende einleitende »Bemerkung des Psychologischen Instituts der FUB« in Holzkamp, SE, 9f). Das kaum für möglich Gehaltene, hier wurde es wirklich, indem jahrelang studiert, geforscht, gelehrt wurde, bis die Kritische Psychologie ein eigenes Corpus entwickeln und in Veröffentlichungen und Lehre übersetzen konnte, programmatisch-konzeptiv verdichtet in Holzkamps Grundlegung. Kritische Psychologie ist somit zugleich als Lernbewegung aufzufassen, die sich dem Studium und der Entwicklung einer marxistischen Subjektwissenschaft widmet mit dem gemeinsamen Ziel, wahrhaft eingreifende Sozialforschung zu sein.
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