materielle Kultur

A: aṯ-ṯaqāfa al-māddīya. – E: material culture. – F: culture matérielle. – R: material’naja kul’tura. – S: cultura material. – C: wùzhì wénhuà 物质文化

Wolfgang Fritz Haug

HKWM 9/I, 2018, Spalten 316-330

In der Kategorie mK kreuzen sich zwei teilweise gegensätzliche Bedeutungen, eine ›selbstverständliche‹ und eine kaum bewusste. Auf den ersten Blick scheint klar, dass »das Reich der geschaffenen Objekte […], das wir bewohnen« (Scarry 1985/1992, 358), oder das »gesamte Lebensinstrumentarium« (Plessner 1961/1964, 7) gemeint ist. Der englischsprachige Wikipedia-Eintrag stört diese Vorstellung, indem er das Gemeinte auf stoffliche Kultur-Indizien einengt, »the physical evidence of a culture in the objects and architecture they make, or have made« (10.2.2015). Der Term sei an sich »relevant only in archeological studies«, meine aber »specifically all material evidence which can be attributed to culture, past or present« (ebd.). Die ursprüngliche Selbstverständlichkeit wird dadurch weiter in Frage gestellt, dass der Ausdruck zwar »häufig gebraucht [wird] von den Archäologen, doch keiner von ihnen hat ihn jemals wirklich definiert« (Reichling 2010, 2). Auch nachdem er auf breiter Front in die ehemaligen Geisteswissenschaften eingezogen ist, findet sich »selten […] eine Reflexion der zugrunde liegenden Prämissen« (Hofmann/Schreiber 2014, 179). Das Unbehagen darüber zieht sich wie ein Leitmotiv durch die Literatur.

Aber warum nicht von Kulturmaterialien oder gegenständlicher Kultur reden? So fragend stößt man auf die sedimentierte Ideologie eines rein ideellen (›geistigen‹) Kulturverständnisses. Getragen war sie bis weit ins 20. Jh. hinein von jener gehobenen Schicht, auf die Fritz K. Ringer am deutschen Beispiel die Bezeichnung für die Staatsintellektuellen des chinesischen Kaiserreichs, »Mandarine«, übertragen hat. Im Zentrum steht dabei der Klassen- und Distinktionssinn der »Metapher der Bildung« (1969/1983, 9). Deren Affinität zur Macht spricht exemplarisch aus Eduard Sprangers Ideal eines »aus dem Göttlichen stammenden überpersönlichen Lebenszusammenhangs, […] der den Staat rechtfertigt und den die Person frei in sich hineinnehmen muss, wenn sie sich zu einer höheren Stufe geistigen Lebens aufschwingen will« (1928, 22; vgl. Ringer 1969/1983, 115).

In der sedimentierten Ideologie tendiert ›materiell‹ als Gegenteil von ›geistig‹ auf den Gegenpol von Kultur. In der Umgangssprache bedeutet es teils »stofflich, sachlich, körperlich […]; handgreiflich, fassbar; auch auf Gewinn eingestellt, genusssüchtig« (Fremdwörterbuch, 1960, 379); der Duden gibt als sinn- und sachverwandt sogar einzig »habgierig« an (Bd. 8, 2., erw. A., 1986, 444). Sollte demnach, etwa wie bei einem abgeschliffenen Gebrauch des Ausdrucks ›materielle Verhältnisse‹, unter mK »alles erst einmal ausgeklammert« werden, »was an Geistiges, Ideologisches, gar ›Gnostisches‹ (Rubinstein; Leontjew) usw. unmittelbar erinnern würde«, stünde mK für Nicht-Kultur, wie Norbert Schneider (2017) warnt, und ihr Gegenstand wäre ausgelöscht.

Auch wenn man sich dessen ungeachtet in der Praxis begnügt mit mK als Bezeichnung für ein Sachgebiet, »nämlich die von Menschen geschaffene Dingwelt und ihre nicht-nur-technischen Funktionen und Bedeutungen« (Warneken 2017), kann die theoretische Reflexion sich nicht damit zufrieden geben, dass »›materiell‹ (in dem Begriffsjunktim ›mK‹) bisher nichts anderes gewesen sein [dürfte] als ein bewusst vager Übereinkunftsbegriff, der sich darum nicht in präziser Distinktionsschärfe fassen lässt« (Schneider 2017). In geschichtsmaterialistischer Linie kann sie dies umso weniger, als kulturelle Gegenständlichkeit für sie ein anthropologischer Grundbegriff ist.

Marx begreift den Menschen im doppelten, subjektiven wie objektiven Sinn als »gegenständliches Wesen« (Ms 44, 40/577). Überhaupt ist »Sein […] in den Augen von Marx synonym mit Gegenständlichsein.« (Lukács, Ontologie, I, 310) Entsprechend ist es für Marx wie für die an ihn anschließende Sicht selbstverständlich, dass der von seiner gegenständlichen Welt getrennte Mensch und mit ihm die Vorstellung einer rein immateriellen Kultur ein »Unwesen« (40/578), eine ideologische Schimäre ist.

Wie noch Hegel in seiner berliner Antrittsvorlesung den »Verkehr mit der Philosophie« als »Sonntag des Lebens« feiert (1818/1956, 16), erklärt die klassisch-hegemoniale Ideologie die Kultur gleichsam zum arbeitsfreien Sonntag der Existenz. Aber Kultur ist die Form des jeweiligen gesellschaftlichen Lebens insgesamt: »Es gab und gibt keine kulturlosen Menschen, auch nicht auf niedrigster Entwicklungsstufe.« (Otto 1960, 13) Zudem ist Kultur gerade in ihren höchsten Formen Produkt intensivster Arbeit. Sie als ungegenständlich und immateriell abzuheben, hätte Engels vermutlich dem »mit dem Anspruch auf Überlegenheit und Gedankentiefe« auftretenden »höheren Blech« zugeordnet (AD, 20/6f). Jedenfalls wirken die Kategorien ›materiell‹ und ›immateriell‹ in diesem Kontext als epistemologische Hindernisse.

Nicht um die nach allen erdenklichen Seiten auseinanderlaufenden Inhalte der »Material Culture Studies« (vgl. Hicks/Beaudry 2010) kann es im HKWM gehen, sondern vorrangig um die Begrifflichkeit, die es mit der geschichtsmaterialistischen Theorie kohärent zu arbeiten gilt.

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