Geistesgeschichte
A: (tārīḫ afkār). – E: (intellectual history). – F: (histoire intellectuelle, histoire de l’esprit). – R: (istorija idej). – S: (historia intelectual). – C: (sixiangshi 思想史)
Wolfgang Fritz Haug
HKWM 5, 2001, Spalten 91-105
Zur Kenntlichkeit übertreibend, beschwört Friedrich Nietzsche um 1872 »eine unsichtbare Brücke von Genius zu Genius« als »die wahrhaft reale ›Geschichte‹ eines Volkes« (…). Eine solche »wahrhaft reale ›Geschichte‹« im Medium des ›Geistes‹ großer Männer (Frauen bleiben zumeist ausgeblendet) schreiben die Vertreter der »G«. Dass ideelle Gebilde eine selbständige Geschichte hätten, begreifen dagegen Marx und Engels als »Schein«. Aus ihm bilden die Ideologen ihre Erzählungen. Wie »Begriffs-«, »Ideen-« oder »Kulturgeschichte« stellt die G für den historischen Materialismus (und damit auch fürs HKWM) eine Kontrastfolie dar, an der sich vermittels Ideologie- und Methodenkritik das Verständnis des eigenen Vorgehens schärft.
Im Unterschied zu jenen anderen ›Bindestrich-Geschichten‹ gilt G als »spezifisch deutsche Form« (Geldsetzer 1974). Einer ihrer namhaften Vertreter, der deutsch-jüdische Emigrant Leo Spitzer, notiert, sie sei zugunsten einer »dingbesessenen Anmerkungswissenschaft« an der US-amerikanischen Akademe »fast spurlos vorübergegangen« (1945/46). – Eine »klare Definition von G« wird man »schwerlich finden«, räumt Eduard Spranger, einer der ›geistigen‹ Botschafter des Dritten Reiches bei den verbündeten Mächten, Anfang 1937 in einem Vortrag in Tokio ein. Im Kern der vagen und zumeist tautologischen Bestimmungen geht es darum, »alles Geistige als Ausfluss eines Gesamtgeistes zu fassen« (Spitzer), und um die Abwehr jedes Versuchs, »das geistige Leben aus etwas anderem als ihm selbst [zu] erklären« (Fogarasi, 1915). An die Stelle eines Verfahrens, das Wirkungszusammenhänge am Material aufwiese, wird die kongeniale Intuition einer substanzhaften Wahrheit gesetzt. Der Anspruch auf eine solche Befähigung, überdies auf eine spezifisch deutsche »Gabe der Einfühlsamkeit« (Spitzer), bewegt Georg Lukács dazu, der G eine »aristokratische Erkenntnistheorie« zu bescheinigen (…). Geist gilt als einheitliche Quelle, der alles entströmt; die Konversion von Geist in Leben und später, via Interpreten-Einfühlung, wieder von Leben in Geist rückt den »Begriff des Ausdrucks und des Verstehens von Ausdruck […] von vornherein [ins] Zentrum« (Gadamer 1972). »Intuition und Wesensschau« (Curtius 1944/1967), ja ein »großer Rausch einfühlender Sympathie« (Masur) bestimmen die Methode, die daher immer bedroht ist durch die »Verführung […] zum allzu schnellen Aufschwung in künstliche Paradiese des Gedankens, diesen Haschisch-Wirkungen einer unverpflichteten geisteswissenschaftlichen Spekulation« (Spitzer 1945/46).
Ihre große Zeit hat die »wissenschaftliche Bewegung« (Spranger 1937) der G im ersten Drittel des 20. Jh. Sie setzt ein um die Jahrhundertwende, in einer Zeit, die im Verdämmern der religiösen Ideologie »ganz außerordentlich viel von der Dichtung wie von der Kunst überhaupt erwartet«, nämlich »Lebensdeutung und geistige Führung« (Kluckhohn 1936). Sie hat sich zumal nach dem Ersten Weltkrieg »an die Stelle der Philologie« gesetzt (Curtius). In dieser Zeit »universeller Geltung der Lebensphilosophie« in Deutschland, unter deren Einfluss »ganz besonders die Geschichtsschreibung, die Literatur- und Kunstgeschichte« stehen (Lukács), sieht Rudolf Unger die G »in einer Epoche […] stürmischer Entwicklung« (…), und noch Ende 1933 glaubt sich Gerhard Masur in einer Epoche ihrer »stets wachsenden Vorherrschaft« (…), während Spranger 1937 registriert, »dass der Höhepunkt der Bewegung schon wieder vorüber ist, ja dass heutzutage die G in Deutschland sogar bekämpft wird«. Letzteres führt er auf die mangelnde Kenntnis davon zurück, dass für die G der Staat »selbst Geist in seiner höchsten und reichsten Wirkungsform« ist – mit dem »großen Mann und Staatsmann als wesentlichem Sendboten (Repräsentanten) des Geistes«, wie bei Hegel.
Die G projiziert sich eine Genealogie in die Vergangenheit zurück und knüpft (außer an Herder, Humboldt, Schleiermacher und Burckhardt) vor allem an Wilhelm Dilthey an. In ihrer Hauptströmung führt sie in den Nazismus. In einem Festvortrag zu Diltheys 100. Geburtstag heißt es: »Er hat es überlebt, dass er vor einem Jahrzehnt [in der Weimarer Republik] Mode war, und führt heute [Ende 1933] in einer steilen Kurve in das lebendige Herz der Gegenwart mitten hinein« (Masur). Aus der Niederlage des Nazismus taucht die G vorübergehend wieder auf, freigesprochen von einem »hilflosen Antifaschismus«, der den NS als Herrschaft des »Ungeists« zurücklassen zu können hofft (vgl. Haug 1967 u. 1987).
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