Gramscismus
A: al-ġramšīya. – E: Gramscianism. – F: gramscisme. – R: gramšianizm. – S: gramscismo. – C: gelanxi zhuyi 葛兰西主义
Alastair Davidson (MH), Peter Jehle, Antonio A.Santucci
HKWM 5, 2001, Spalten 944-956
Antonio Gramsci, der 1937 an den Folgen einer zehnjährigen Haft in italienischen faschistischen Gefängnissen starb, ist ein ›postumer Autor‹. Die Wirkungsbedingungen seines nachgelassenen Werkes sind zunächst an die Geschichte der von ihm mitbegründeten KPI gebunden. Dass eine Ausgabe der Gefängnishefte gleich nach dem Ende des Faschismus in Angriff genommen wurde – sie erschien zwischen 1948 und 1951 in 6 Bänden –, ist dem Parteivorsitzenden Palmiro Togliatti zu verdanken, der die politisch-kulturelle Bedeutung dieser Aufzeichnungen hellsichtig erkannt hat. Zwar wurde mit dieser thematisch gegliederten Ausgabe eine »klassische Einteilung des Wissens« (Philosophie, Geschichte, Literatur, politische Theorie), die in Gramscis Arbeit selbst überwunden war (Liguori 1999), reproduziert. Wichtiger war jedoch, dass, auch ohne die ursprüngliche Anordnung und Vollständigkeit der Notizen zu respektieren, die Aneignung eines Denkens möglich wurde, das auf eine im Marxismus bisher unerhörte Art die Frage nach einer revolutionären Strategie in entwickelten kapitalistischen Gesellschaften stellte und »die italienischen Kommunisten gegen den Stalinismus und den Diamat impfte« (Liguori 1997). Um der KP die Ausstrahlungskraft ins liberale Lager zu sichern – im Kalten Krieg ein schwieriges Unterfangen –, bedurfte man eines Gramsci, der als ›traditioneller‹ und weniger als ›organischer‹ Intellektueller der Arbeiterklasse wahrnehmbar erschien. Indem man die von ihm inspirierte neue Ordnung des Wissens verdunkelte, sollte dieses ›Werk‹ zugleich anschlussfähig sein an die von Moskau repräsentierte kommunistische Weltbewegung und deren Doktrin des ML. Erst die von Valentino Gerratana vorgelegte Neuausgabe der Gefängnishefte (1975) machte den Weg frei für eine Wahrnehmung, die Gramscis Intention näherkam: Kein fertiges Werk, sondern ein Laboratorium von Denkversuchen, deren unfertiger und experimenteller Charakter nicht nur auf das Konto äußerer Umstände wie Gefängnishaft und Zensur ging, sondern Gramscis Arbeitsweise kennzeichnete.
So wenig wie der Marxismus geht der G in der Interpretation eines ›Werkes‹ auf. Die Wege der mit dem Namen Gramscis verbundenen Veränderungsbewegungen waren ebenso zahlreich wie die Probleme, deren Lösung ihnen aufgegeben war. Kein ›Ismus‹ entkommt seiner Geschichtlichkeit: Was sich als fähig erwiesen hat, eine geschichtliche Situation zu gestalten und folglich ein Prestige gewonnen hat, das zur Nachahmung auffordert, kann zu einer neuen Orthodoxie verknöchern und umgekehrt Anlass geben, sie als ›Abweichung‹ zu bekämpfen. Anders als im Falle des Leninismus oder Maoismus, deren fortwirkendes Prestige an eine Revolution gebunden war, die als aktuelle Politik stets neu gestaltet werden musste, erscheint der G als ein Werkzeugkasten von Denkmitteln, die, indem sie in Gebrauch genommen werden, stets neue Gebrauchsweisen provozieren. In dieser Herausforderung liegt ihr fortdauernder Wert.
In der neuen Konstellation nach 1989/91 wurden mit dem Verschwinden des europäischen Staatssozialismus und des an diesen gebundenen ML zugleich die »unorthodoxen« Linien innerhalb des Marxismus diskreditiert. In einer Theoriekultur, welche die ›Differenz‹ auf ihre Fahnen geschrieben hat, wird dieser Unterschied nicht gemacht. Die Diskussion um »Zivilgesellschaft«, in den 90er Jahren weitgehend in liberalen Bahnen unter Ausschluss Gramscis geführt, illustriert die Widersprüchlichkeit der Lage: Der sachlichen Aktualität seines Denken korrespondiert die Schwierigkeit, ihm öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen. Die philologischen Voraussetzungen dafür sind merklich besser geworden: Seit Ende der 90er Jahre liegen eine französische und eine deutsche Übersetzung des vollständigen Textes der Gefängnishefte vor (vg. Jehle 1999).
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