Gefängnishefte

A: dafātir as-siǧn. – E: Prison Notebooks. – F: cahiers de prison. – R: tjuremnye tetradi. – S: cuadernos de la cárcel. – C: yuzhong zhaji 狱中札记

Joseph A. Buttigieg (THB, PJ)

HKWM 4, 1999, Spalten 1318-1329

Antonio Gramsci wurde am 8. November 1926 verhaftet. 18 Monate später, beim Prozess vor dem Sondergerichtshof für Staatsschutz, erklärte der faschistische Staatsanwalt: »Für die nächsten zwanzig Jahre müssen wir verhindern, dass dieses Gehirn funktioniert.« (Zit.n. Fiori 1979) In der Hälfte dieser Zeit brachte Gramsci – der, ohne seine Freiheit je wiedererlangt zu haben, am 25. April 1937 im Alter von 46 Jahren starb – ein Werk hervor, das ihn als einen der hervorragendsten Intellektuellen seiner Generation ausweisen sollte. Seine Briefe aus dem Gefängnis (LC) und die Hefte (Q; Gef) mit Tausenden von Seiten voller Aufzeichnungen, die er in der Zelle in Turi (bei Bari in Apulien) und in der Klinik der Küstenstadt Formia niederschrieb, wohin er verlegt worden war angesichts des sich abzeichnenden völligen Zusammenbruchs seiner fragilen Gesundheit, waren von ihm nicht zur Veröffentlichung bestimmt und erschienen – in Form thematisch gruppierter Auswahlbände – erst nach dem Krieg. Sie beeinflussten in Italien sogleich und nachhaltig die politische Kultur in einem Maß, das den Wirkungskreis der KP, zu deren Gründern Gramsci gehört hatte, bei weitem überstieg. Seine Analysen wurden zu einem beinah allgegenwärtigen Bezugspunkt für die verschiedenen Strömungen des westlichen Marxismus, und Auswahl-Übersetzungen aus den G.n in verschiedene Sprachen sorgten für deren weltweite Verbreitung.

Viele gramscianische Begriffe und Kategorien – wie »Hegemonie«, »Zivilgesellschaft«, »traditionelle/organische Intellektuelle«, »passive Revolution«, »subalterne gesellschaftliche Gruppen«, »geschichtlicher Block«, »Stellungskrieg«, »Alltagsverstand«, »Philosophie der Praxis«, »Fordismus« – sind inzwischen grundlegender Bestandteil des sozialwissenschaftlichen Wortschatzes. Trotz der ›postkommunistischen‹ Tendenz, viele Klassiker der marxistischen Tradition an den Rand des theoretischen und kritischen Diskurses zu drängen, sind die G eine reichhaltige Quelle geblieben, aus der viele Intellektuelle und Wissenschaftler ihre Ideen schöpfen. Dabei hat die Suche nach einer neuen politischen Strategie, die zugleich sozialistisch und demokratisch ist, eine Reihe umstrittener Deutungen von Gramscis Hegemoniebegriff, seiner Staatstheorie oder seiner Analyse der Zivilgesellschaft hervorgebracht. Zugleich sorgten das Aufkommen der cultural studies sowie das wachsende Interesse an der Popularkultur für die anhaltende Anziehungskraft von Gramscis weitgefächerten Reflexionen zu den Beziehungen von Kultur und Politik. In Geschichtswissenschaft und Anthropologie stellt Gramsci eine zentrale Inspirationsquelle dar für die Erforschung der verdeckten Geschichte untergeordneter gesellschaftlicher Gruppen sowie ihrer kulturellen und politischen Beziehungen zu den herrschenden Gruppen. Weitere aktuelle Fragen betreffen das Funktionieren der Macht in modernen Gesellschaften, die Problematik von Moderne und Modernisierung, mit der sich weniger ›fortgeschrittene‹ Teile der Welt angesichts der raschen Globalisierung des Kapitals konfrontiert sehen, und die Debatten um Bedeutung und Funktion der Zivilgesellschaft und Möglichkeiten ihrer Ausweitung, ferner die Auseinandersetzung um eine zeitgemäße Rolle der :Intellektuellen. Gleichzeitig sind die G zum ›Klassiker‹ geworden, und zwar nicht nur in dem Sinn, dass keine Geschichte der politischen Philosophie oder Gesellschaftstheorie daran vorbeikommt, sondern auch insofern, als sie zum Gegenstand fortgesetzter Analyse und vielfältiger Deutungen von Wissenschaftlern aus allen möglichen intellektuellen Traditionen geworden sind.

Alltagsverstand, Amerikanismus, autoritärer Populismus, bürgerliche Gesellschaft, Feuerbach-Thesen, Fordismus, geschichtlicher Block, Gramscismus, Handlungsfähigkeit, Hegemonialapparat, Hegemonie, Historismus, ideologische Staatsapparate/repressiver Staatsapparat, integraler Staat, Intellektuelle, Katharsis, Kohärenz, Konsens, kultureller Materialismus, Kulturstudien, lesende Arbeiter, Lorianismus, Machiavellismus, Massenkultur, Objektivität, Ökonomismus, organische Intellektuelle, passive Revolution, Philosophie, Philosophie der Praxis, Popularkultur, popular-national, Sprache, Staat, Stellungskrieg/Bewegungskrieg, Struktur, Subalternität, Südfrage, Superstruktur, westlicher Marxismus, Zivilgesellschaft

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