Konsens
A: ’iǧmā‛. – E: consent. – F: consensus. – R: soglasie, odobrenie. – S: consenso. – C: tongyi 同意
Christian Wille (I.), Thomas Wagner (II.)
HKWM 7/II, 2010, Spalten 1563-1589
I. K, Übereinstimmung, Zustimmung oder Einwilligung in Bezug auf die Organisation eines Gemeinwesens und seiner Funktionen ist von grundlegender Bedeutung angesichts struktureller Konfliktpotenziale. In allen Gesellschaften ohne staatlich reproduzierte Klassenherrschaft spielen konsensuelle Regelungsmechanismen eine zentrale Rolle, um das Entstehen von dauerhaften (Klassen-)Spaltungen zu verhindern und Gemeinwesen-Funktionen zu konsolidieren. Reine Schreckensherrschaften sind in der Regel nicht von Dauer. Dass K für die Stabilisierung von Herrschaft bedeutsam ist, gehört zum Gemeingut politischen Denkens. Konfuzius berichtet, Tsze-kung habe den Meister nach der wichtigsten Voraussetzung der Regierung befragt: Lebensmittel, militärische Ausrüstung oder das Vertrauen der Menschen – welche sollte man zuletzt preisgeben? Der Meister antwortete: Trenne dich von den Lebensmitteln. »Seit jeher ist der Tod das Los des Menschen. Wenn aber das Volk kein Vertrauen in die Regierung hat, kann der Staat nicht bestehen.« (Lun-Yu) Kaiser Caligula, dessen Lieblingswort »Oderint, dum metuant« (»Mögen sie hassen, wenn sie nur fürchten«) gewesen sein soll, hat es auf nur vier Amtsjahre gebracht, bevor ihn seine Prätorianer umbrachten.
Vertrauen in die Herrscher ist etwas anderes als bewusste, erklärte Zustimmung, sich den Gesetzen zu unterwerfen, die nach Rousseaus Vorstellung vom Gesellschaftsvertrag mindestens einmal einmütig (consentement unanime) bestanden haben muss – »denn die Assoziation der Bürger ist die freiwilligste Handlung der Welt«; niemand kann den anderen »ohne seine Einwilligung unterwerfen« (Vom Gesellschaftsvertrag, 1762, IV.II; 1989). Zwischen beiden Polen erstreckt sich das Bedeutungsfeld von K, mit charakteristischen Übergängen wie ›Einverständnis‹ oder ›Überzeugung‹, die sich allesamt in aktivem wie passivem Sinn gebrauchen lassen. Das verschafft dem K-Begriff seinen ideologietheoretisch interessanten, doppelten Boden: Was – vorrangig im Modus der Fiktion – die Möglichkeit freier und gleicher Teilhabe an der rechtlich-politischen Grundgestaltung des Gemeinwesen verheißt (eine wichtige Waffe bei der Emanzipation der Bürger von der Feudalherrschaft), findet sich im politischen Alltagsleben der ›liberal-demokratischen‹ Regimes auf kapitalistischer Grundlage als weithin unbefragte subalterne Zustimmung zum politisch-kulturellen Projekt der führenden Kräfte innerhalb eines herrschenden Machtblocks.
Die Funktionsnotwendigkeit des K sollte aber nicht zu dem Fehlschluss verleiten, ihn abstrakt als Gegensatz zum Zwang zu verstehen. Stattdessen geht es darum, das Zusammenwirken von Zwang und K als »dialektisches Verhältnis« (Gramsci, Gef) im Rahmen konkreter gesellschaftlicher Formationen zu erfassen. »Die ›normale‹ Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch eine Kombination von Zwang und K aus, […] ohne dass der Zwang den K zu sehr überwiegt« (…). Die Fähigkeit, politische Entscheidungen auf K zu gründen, ist in ihrem Bedeutungswechsel zu untersuchen: was der Möglichkeit nach gemeinschaftliche Regelung von gesellschaftlichen Angelegenheiten, ohne Macht in Herrschaft zu verwandeln, anzeigt – die Perspektive horizontal-funktionaler Regulierung des Gemeinwesens –, ist unter Bedingungen der Klassenherrschaft in der durch Gewalt gestützten und diese zugleich begrenzenden Funktion zusammengezogen, die Zustimmung der Subalternen zur Herrschaft zu organisieren.
II. Emanzipatorische Politik zielt auf die Herstellung gesellschaftlicher Verhältnisse, in denen Entscheidungen, die alle betreffen, ohne Zwangseinwirkungen, also herrschaftsfrei, getroffen werden. Daher gehört K zu den Grundbegriffen einer Befreiungstheorie, die Demokratie »als gesellschaftliche Organisationsform« versteht, »die ausgerichtet ist an der regulativen Idee einer Überwindung von Herrschaftsbeziehungen« (Fisahn 2008). Als empirisch vorgefundene »regulierte Anarchie« (Weber, WuG) – ein Begriff, den Christian Sigrist (1971/1994) am Beispiel herrschaftsloser Gesellschaften in Afrika ausgearbeitet hat – oder konkret-utopische »regulierte Gesellschaft« (Gramsci, Gef) ist die gemeinschaftlich-konsensuale Kontrolle der gesellschaftlichen Lebensbedingungen »Ausgangspunkt wie Fluchtpunkt« (Haug 1993) demokratischer Umgestaltung.
Vom »Grenzfall der vollkommenen Demokratie in einem Gemeinwesen, das keinerlei gefestigte Autorität besitzt«, nimmt dagegen die politische Theorie von Bertrand de Jouvenel (1967) ihren Ausgang. Er insistiert darauf, dass die einstimmigen Beschlüsse, also der K einer »Lagerfeuer-Demokratie« (…), durch Verhandlungen hergestellt werden müssen. Eine Annäherung an diesen Zustand, in dem »demokratische Selbstverwaltung eine Realität ist« (…), findet er in der Politik herrschaftsloser Gesellschaften, wie sie die ethnologische Forschung schildert. Heute ist die K-Demokratie in nichtwestlichen Gesellschaften mindestens so weit verbreitet wie die verschiedenen Ausformungen der »Mehrheitsdemokratie«. »In non-Western societies, the local village council, the corporation, and even the national legislature will consciously and frequently make their decisions by consensus.« (Mansbridge 1983)
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