Komisches

A: komīdya. – E: comic. – F: le comique. – R: komičeskij. – S: lo cómico. – C: huajide 滑稽的

Peter Jehle

HKWM 7/II, 2010, Spalten 1201-1217

Das K lässt sich historisch-kritisch erkunden, scheint aber selbst keine Geschichte zu haben. Das Missgeschick des in die Grube gefallenen Thales, die Streiche Eulenspiegels, der eine Schuhsohle verspeisende Chaplin – das davon ausgelöste Lachen scheint an keine ökonomische Formation gebunden. Doch indem sich das K vom bloßen Geblödel ebenso unterscheidet wie von dem Hohngelächter, das sich an Rassismus, Sexismus oder anderen Formen von Diskriminierung entzündet, bewegt es sich stets in der Nähe des Ernstes – wie die ›Verrücktheit‹ des Ritters »von der traurigen Gestalt« in der Nähe des scharfsinnigen Verstandes, der die Verhältnisse durchschaut. »Die Laster der Menschen z.B. sind nichts Komisches« (Hegel, Ästh); sie verfallen der Satire, die sie in grellen Farben ausmalt. »Torheiten, Unsinn, Albernheiten« – nicht »jedes substanzlose Handeln« ist, nur weil man darüber lacht, komisch (…). Allein das »Tragikomische«, in dessen Namen die bürgerliche Emanzipationsbewegung des 18. Jh. die ernsthafte Darstellung des Dritten Standes auf dem Theater reklamiert, wird aufnahmefähig für die alltägliche Wirklichkeit, die aus der den Haupt- und Staatsaktionen vorbehaltenen Tragödie ausgeschlossen war. Friedrich Dürrenmatt wird daraus die »tragische Komödie« formen, wie er den »Besuch der alten Dame« bezeichnet, die dem ruinierten Städtchen »Konjunktur für eine Leiche« in Aussicht stellt (1955/1998). »Chaplin ist der größte Komiker geworden, weil er das tiefste Grauen der Zeitgenossen sich einverleibte«, notiert Benjamin (…). Wenn auch das Lachen, das dem mit Ernst geladenen K entspringt, keine Geschichte hat in dem Sinne, dass es bei allen Völkern und zu allen Zeiten anzutreffen ist, so gehört es doch, wie Dantes Komodie, die vom Jenseits berichtet, in die geschichtliche Welt. »Die Technik des Eulenspiegel ist die uralte der Verfremdung«, bemerkt Klaus Heinrich (1964/2002); wir lachen über ihn, weil die damals neu auftauchende Welt der bürgerlichen Verkehrsformen, deren »Einübung« er mit seinen Späßen betreibt (Haug 1976), noch immer die unsere ist. Wenn in der postmodernen Diskussion »das Wort ›komisch‹« durch »das Lachen und den lachenden Körper« verdrängt wird (Schwind 2001), so deshalb, weil sie die Comedy-Show im Fernsehen zum Paradigma erhebt und so die Dialektik des K und Ernsthaften im Meer der witzlosen Unterhaltung ertränkt.

In einer Perspektive der Befreiung aus Unterdrückung und Selbstfesselung gewinnt die Erkundung des K besondere Bedeutung. Wie die Ironie, die die Frage aufwirft, wie »die Antagonismen der bürgerlichen Gesellschaft nicht bloß ironisch zu überspringen, sondern historisch-konkret zu überwinden« wären (Barfuss 2004), ist das K ein Modus des Sich-Manövrierfähig-Haltens unter Bedingungen der Subalternität. Daran, dass Gramsci nicht mehr über sich lachen konnte, las er die zerstörerische Wirkung des Gefängnisregimes ab, dem er seit November 1926 unterworfen war (Briefe, 19.11.1928). Die Subalternität mag im Lachen durchschaut werden, doch sind die Witze über ›die da oben‹ solange ›in Ordnung‹, wie sie ein Einverstandensein organisieren, das auf seiten der subalternen Klassen die Energie blockiert, »sich selbst zur Kunst des Regierens erziehen [zu] wollen« (Gef).

Befreiung, Bonapartismus, Dialektik, Einfühlung, Französische Revolution, Gott, Herrschaft, Inquisition, Ironie, Karikatur, Karneval, Konformismus/Nonkonformismus, Kultur, Lachen, Literaturverhältnisse, Mehrwert, Moral, Realismus, Satire, Subalternität, Subjekt, Theater, Verfremdung, Wahrheit, Witz, Würde

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