Kritische Theorie
A: naẓarīya an-naqdīya. – E: Critical Theory. - F: théorie critique. – R: kritičeskaja teorija. - S: teoría crítica. – C: pipanlilun 批判理论
Gerhard Schweppenhäuser (I.), Frigga Haug (II.)
HKWM 8/I, 2012, Spalten 197-223
I. KT der Gesellschaft ist emanzipatorische Sozialphilosophie. Sie versucht, Analyse und Kritik der Praxisformen sowie der Vernunft- bzw. Rationalitätstypen bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften von der Mitte des 19. Jh. bis heute in einer Denkbewegung zusammenzuführen. Ihr Anknüpfungspunkt ist die marxsche Theorie des Wertgesetzes als Grundlage warenproduzierender Gesellschaften, die aus der Analyse der Wertform abgeleitet wird. Diese Theorie ist zugleich Kritik der politischen Ökonomie, d.h. Aufweis der Leistungsfähigkeit und Grenzen dieser Wissenschaft für die Erklärung der Wertform mit ihren sozialen und ideologischen Folgen. Bei Max Horkheimer, Herbert Marcuse und Theodor W. Adorno ist Gesellschaft insofern Gegenstand der Theorie, als ihr Begriff systematisch aus der Konstellation mit anderen tragenden Begriffen (wie Totalität, Tausch, Selbsterhaltung, Identität u.a.) und aus der Klärung des Wirklichkeitsgehalts dieser Begriffe abgeleitet wird. Zugleich ist Gesellschaft insofern Gegenstand der Kritik, als die bestehende Gestalt ihrer Wirklichkeit am Gehalt ihrer Möglichkeiten gemessen wird.
Die Denkbewegung, die Theorie und Kritik verbindet, bringt die Antagonismen der untersuchten Vergesellschaftungsform(en) auf den Begriff und fragt nach potenziellen Subjekten ihrer radikalen Veränderung. KT ist nach Horkheimers Auffassung »eine Theorie, die den geschichtlichen Prozess der Gegenwart nicht nur äußerlich beschreibt, sondern wirklich begreift und so zur umgestaltenden Kraft wird, auf die realen Kämpfe des Zeitalters einwirkt« (Schmidt 1968/1979). Schauplatz dieser Kämpfe sind die Transformationen der Klassengesellschaften, ihre Weltkriege und Vernichtungsexzesse, die das Projekt der vernünftigen Bemeisterung humaner und sozialer Reproduktion einen anscheinend mehr und mehr utopischen Charakter annehmen lassen.
Grundlage der KT ist bis ca. Mitte der 1940er Jahre der historische Materialismus. Dieser unterscheidet sich von anderen (natur- und geisteswissenschaftlichen) Theorietypen durch seine zweifache Reflexivität: Er thematisiert seine eigenen, historischen Entstehungsbedingungen und seine gegenwärtige und zukünftige »politische Praxis, die bewusst darauf abzielt, das bestehende Institutionensystem umzuwälzen« (Habermas 1971).
Zunächst bezeichnete Horkheimer die Grundlage der undogmatisch-marxistischen Gesellschaftstheorie des Frankfurter IfS noch als »Materialismus«, dem »die Dialektik nicht als abgeschlossen« gilt (GS 3). 1937 führte er dann den Namen »kritische Theorie« (im Unterschied zur »traditionellen«) ein (GS 4), um das Theorieprojekt einerseits vom autoritären Sozialismus abzugrenzen und andererseits Reizworte zu vermeiden, die der Arbeit des Instituts im antikommunistischen Umfeld des Exils unzuträglich sein konnten. Heute ist die Bezeichnung »kritische Theorie« zu einem Namen geworden, der für mehrere Spielarten des »westlichen Marxismus« (Merleau-Ponty 1955; Anderson 1978) verwendet wird. Wird die Schreibweise »Kritische Theorie« gewählt, so ist i.d.R. von Horkheimers »Frankfurter Schule« die Rede.
II. Seyla Benhabib (1986/1992) hat die Wandlungen der allzu pauschal unter dem Namen KT zusammengefassten theoretischen Ansätze der Frankfurter Schule untersucht. Im Anschluss an Jürgen Habermas nutzt sie deren schließliche Selbstaufhebung für feministischen Zweifel an marxistischer Gesellschaftstheorie. Sie unterscheidet drei Phasen der Entwicklung bis 1945, von denen nur die mittlere als »kT« (»kritisch« hier noch klein geschrieben) zu bezeichnen sei: die des »interdisziplinären Materialismus« 1932 bis 1937, die einer »kritischen Theorie« 1937 bis 1940 und die einer »Kritik der instrumentellen Vernunft« 1940 bis 1945. Jede dieser Phasen bringe zeitgeschichtliche Erfahrungen zum Ausdruck: Die Arbeiterbewegung der Weimarer Republik, die Gesellschaftsstruktur der SU und der nazistische Faschismus führten jeweils zu »grundlegenden Veränderungen der Theorie; die Beziehung zwischen Theorie und Praxis, zwischen den Subjekten und den Adressaten der Theorie wurde neu bestimmt, während das Wechselverhältnis zwischen der Philosophie und den Einzelwissenschaften, zwischen KT und Marxismus begrifflich neu formuliert wurde« (…). Aufgrund der Erfahrungen mit dem Scheitern des sozialistischen Experiments und dem Sieg des europäischen Faschismus gehe der Weg der Kritik von der Aussichtslosigkeit, innerhalb des Bestehenden noch einen Standpunkt der Kritik zu finden, hin zur Aufgabe, »das radikal Neue und ganz Andere« zu denken (…).
➫ Anerkennung, Antagonismus, Antisemitismus, Ästhetik, Aufklärung, Auschwitz, Bedürfnis, Begriff, bestimmte Negation, Bewusstsein, Destruktivkräfte, Dialektik, dialektischer Materialismus, Diskurstheorie, eingreifendes Denken, Emanzipation, Empirie/Theorie, Entfremdung, Erfahrung, Erkenntnis, Erkenntnistheorie, Film, Fortschritt, Frankfurter Schule, Ganzes, Geschichtsphilosophie, Gesellschaft, Gewalt, Herrschaft, herrschaftsfreie Gesellschaft, historischer Materialismus, Identität, Ideologiekritik, immanente Kritik, Individuum, Irrationalismus, Kantianismus, klassenlose Gesellschaft, Kommunikation, Korsch-Linie, Kritik, Kritik der politischen Ökonomie, Kulturindustrie, Lukács-Schule, Macht, Masse, Micky Maus, Moderne, Möglichkeit, negative Dialektik, Neukantianismus, Objektivismus, organisierter Kapitalismus, Positivismus, Positivismusstreit, Produktivkräfte, Rationalismus, Rationalität, revolutionäres Subjekt, Revolutionstheorie, Sozialwissenschaften, Staatskapitalismus, staatsmonopolistischer Kapitalismus, Subjekt, System, Tauschwert, Theater, Theorie/Praxis, Totalitarismus, Totalität, Unbewusstes, Utopie, Verdinglichung, Vergesellschaftung, Vernunft, Vernunftkritik, Versöhnung, Ware, Wertgesetz, westlicher Marxismus, Widerspruch, Widerstand