Konsumismus
A: istihlākiyah. – E: consumptionism, consumerism. – F: consumérisme. – S: consumismo. – R: potrebitelstvo. – C: xiaofei zhuyi 消费主义
Franz Hochstrasser, Peter Jehle
HKWM 7/II, 2010, Spalten 1633-1642
Inspiriert durch die beim täglichen Joggen erspähten Clochards entwarf John Galliano für Christian Dior einen Clochard-Chic-Look, in dem Zeitungspapier, Draht und andere wertlose Dinge zum Material der Haute Couture avancierten (vgl. Labica 2003). Wenn schon die Obdachlosen, verbannt in die Unterwelt der Arbeitslosigkeit, nichts fürs Kapital Verwertbares produzieren, so ließ sich doch ihr Erscheinungsbild verwerten – für ein Marktsegment von Gutbetuchten, die für den modischen Unterschied, der im Rhythmus der Jahreszeiten erneuert wird, in die Tasche greifen. Der schöne Schein des guten Lebens entfaltet seine Verführungskräfte auch dann, wenn es beim Schein bleibt. Wie einst die Schweinskopfsülze nur in Gestalt eines raffinierten Rezepts den Kriegsgefangenen Günter Grass bei weiterhin knurrendem Magen erreichte (vgl. 2006), so heute die neueste Badezimmereinrichtung nur den Bildschirm in den Wellblechhütten der Favelas. Auch wem es gelingt, die Grenze in Richtung Norden zu überschreiten, interessiert nur als billiges Ersatzteil in dem Getriebe, das den gesteigerten Konsum der anderen garantiert.
»Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ›ungeheure Warensammlung‹« (K I). Sie ist das El Dorado des ›Konsumenten‹, der die Grenze zum K immer dann überschreitet, wenn der Einkaufsbummel selbst zu treibendem Motiv und sich verselbständigender Verhaltensweise wird. Das Heer der am erfolgreichen ›salto mortale der Ware‹ aus der Ding- in die Geldform arbeitenden Strategen ist erfindungsreich, wenn es darum geht, das Kaufen unabhängig vom Bedarf als eine Praxis eigenen Rechts zu etablieren: »Einkaufen« hat mit »Shopping« nichts zu tun, verkündet Norbert Bolz, der letzteres zur »Lebensform« stilisiert (2002). In der »Gesellschaft des Hyperkonsums«, die »der Zeit der politischen Revolutionen ein Ende gesetzt hat« und deren Anfänge Gilles Lipovetsky aufs »Ende der 1970er Jahre« datiert (2006), scheint sich das Karussell der Wünsche immer schneller zu drehen: »Je mehr man konsumiert, desto mehr möchte man konsumieren« (…). Der »homo consumericus« (…) ist auch mit kleiner Brieftasche willkommen. Flotte Sprüche – ›Geiz ist geil‹ – sollen der Manövrierfähigkeit angesichts endlicher Mittel auf die Sprünge helfen. Wo die Kreditkarte als der Universalschlüssel fungiert, der jederzeit und an jedem Ort den Zugang zu den Objekten der Begierde verbürgt, wird der Verlust der Kreditwürdigkeit zum größten anzunehmenden Unfall. Wie die katholische Kirche ihre Gotteshäuser offen hält, um der Betätigung des religiösen Bedürfnisses kein Hindernis in den Weg zu legen, so sollen die Orte, an denen die Waren die Erlösung aus dem Dämmerzustand durch den Kaufakt des Konsumenten erwarten, allezeit zugänglich sein.
Soweit einige Streiflichter aus der Phänomenologie der Konsumgesellschaft, die Anlass zur Ausbildung eines Diskurses über K gegeben hat. Wie beim ›Ökonomismus‹ sich die Frage stellt, »wogegen« und »wohin« man sich wendet, »wenn man ›Ökonomismus‹ kritisiert« (Haug 1985), so beim K. Daher interessiert im folgenden weniger eine Wesensdefinition, die eine bestimmte Anzahl von Phänomenen als ihr Eigentum einzäunt, als vielmehr Auftreten, Artikulationsweise und Funktionen dieses Diskurses – in seiner kritischen und affirmativen Variante. »Die Herrschaft des Konsums, der neue Faschismus«, heißt es zornig bei Pier Paolo Pasolini (1975/1978), während Bolz den K als »das Immunsystem der Weltgesellschaft gegen den Virus der fanatischen Religionen« (2002) feiert – ähnlich wie Lipovetsky, der von ihm glaubt, er schütze vor der »Wiederkehr der autoritären Knute« (2006).
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