Kemalismus

A: kamāliyah. – E: Kemalism. – F: kémalisme. – R: Kemalizm. – S: kemalismo. – C: kaimoer zhuyi 凯末尔主义

Sinan Özbek, Christof Ohm

HKWM 7/I, 2008, Spalten 554-577

K ist eine in der Türkei einflussreiche, antagonistisch reklamierte Staatspraxis und -ideologie, die auf Mustafa Kemal Atatürk (1881-1938) zurückgeht. Durch politische und militärische Initiative trug er entscheidend zur »ersten siegreichen Befreiungsbewegung in einem Land der Dritten Welt« (Pöschl 1985) und zur Gründung des türkischen Nationalstaats bei. Udo Steinbach vergleicht die kemalistische mit der »leninistischen Revolution« (1996): »Gewaltanwendung war für Atatürk punktuell notwendig, aber nicht wie für Lenin (und insbesondere für seinen Nachfolger Stalin) […] gleichsam flächendeckend gerechtfertigt« (…). 1918 hatten die Entente-Mächte das Osmanische Reich aufgeteilt und sahen für die türkische Bevölkerung einen unselbständigen Reststaat vor. Kemal, der 1915 die Abwehr der britisch-französischen Landung an den Dardanellen geführt hatte (vgl. Glasneck 1971) und 1919, »da ihm der Ruf der Unbesiegbarkeit vorausging, populärer als alle anderen Militärführer« war (Rustow 2004), rebellierte gegen das Sultanat/Kalifat, um es vorgeblich zu retten. Er koordinierte als Zivilist die weit gestreuten, aus vielerlei »zivilgesellschaftlichen Netzen« (Çağlar 2003) hervorgegangenen Widerstandsbewegungen, berief die Große Nationalversammlung der Türkei ein und baute, durch sie legitimiert, einen Gegenstaat auf, der sich Staatsapparat und Armee unterstellte. Unter Kemals Führung wurden im Türkischen Befreiungskrieg (1919-1923) die griechische Interventionsarmee besiegt. Der 1923 zwischen den Entente-Mächten und der Türkei abgeschlossene Vertrag von Lausanne zwang 1,3 Mio Griechen Kleinasien und eine halbe Million ethnischer Türken Griechenland zu verlassen, – »die erste zwischen zwei Staaten vereinbarte Zwangsumsiedlung der Geschichte« (Kadritzke 2004).

Diese Siege verliehen Kemal und seiner Fraktion die Autorität, in der Nationalversammlung die Gründung eines republikanisch-parlamentarisch verfassten, laizistischen Nationalstaats durchzusetzen und die Republikanische Volkspartei (RVP) aufzubauen, die von 1925-1945 allein regierte. Aus dem K als Projekt ging eine kapitalistische Modernisierung (1980 bis 2003 Exportanstieg von 3 auf 50 Mrd. Dollar, Keyder 2004), ein Mehrparteiensystem sowie eine Zivilgesellschaft hervor, in der die Intervention des Militärs durch ›legalen Putsch‹, die Zwangsassimilierung nichttürkischer Bevölkerung, aber auch die errungene Trennung von Staat und Islam umstritten sind. Die Frage nach Widersprüchen und Perspektiven des K stellt sich damit erneut.

Antikolonialismus, Bourgeoisie, bürgerliche Revolution, Bürokratie, dritter Weg, Etatismus, Ethnie/Ethnizität, Feminisierung der Arbeit, Feminismus, Französische Revolution, Genozid, Geschlechterverhältnisse, Ideologe, Imperialismus, islamische Revolution, islamischer Fundamentalismus, Kirche, Klassenherrschaft, Klassenkampf, Kolonialismus, Kommandohöhen, Kopftuchstreit, Korporatismus, Kultur, Kulturimperialismus, Kulturrevolution, militärisch-industrieller Komplex, Modernisierung, Nation, nationale Befreiung, nationale Bourgeoisie, nationale Spezifik, Nationalstaat, Oktoberrevolution, Okzidentalismus, Orientalismus, osmanische Gesellschaftsstruktur, Paternalismus, Patriarchat, Populismus, Religion, Republik, Staatskapitalismus, Staatsklasse, Theokratie, Zivilisation

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k/kemalismus.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/18 14:34 von christian     Nach oben
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