Konsumgesellschaft
A: muǧtama‛ istihlākī. – E: consumer society. – F: société de consommation. – R: potrebitel’skoje obšžestvo. – S: sociedad de consumo. – C: xiaofei shehui 消费社會
Mario Scalla
HKWM 7/II, 2010, Spalten 1623-1633
Wie Massen-, Wissens- oder Informationsgesellschaft ist auch K ein Ausdruck, der ein Einzelmerkmal kapitalistischer Gesellschaften absolut setzt, mithin deren widersprüchliche Funktionsweise nicht fassen kann. Wo alles Licht aufs Konsumieren fällt, rückt das Produzieren ins Dunkel. Jedes Land wird, unterm Gesichtspunkt der K betrachtet, zum gelobten, in dem Milch und Honig fließen. Die konkreten Umstände des Produzierens – Fabrikdisziplin, Ausbeutung, Schweiß – sind ebenso zum Verschwinden gebracht wie die vom Konsumismus Ausgeschlossenen.
Das Auftauchen der K ist mit dem Fordismus verknüpft, mit einer Produktions- und Lebensweise, in der die Taylorisierung der Arbeitskraft auf Grundlage gesteigerter Produktivität mit einer Lohnpolitik kombiniert wird, die den Zugang zu einem größeren Warenangebot erst ermöglicht. Der Arbeiter, der während der Arbeitszeit ausschließlich als Produzent interessiert, verwandelt sich außerhalb der Fabrik in den ›Verbraucher‹, der (auch) kaufen soll, was er nicht braucht. Dass er aber tatsächlich kaufen konnte, was er brauchte – dieser Umstand wurde im Kontext der Systemauseinandersetzung nach dem Zweiten Weltkrieg auf seiten der kapitalistischen Gesellschaften zu einem Integrationsfaktor ersten Ranges: Während die immer gleichen Konserven in den Schaufenstern des Systemgegners von der ungebrochenen Kontinuität des aus dem Krieg überkommenen Mangels zu künden schienen, überzogen die opulenten Warensammlungen im Westen den Alltag der abhängig Beschäftigten mit dem Schmelz des Überflusses. Die Gesellschaft schien tatsächlich in eine K verwandelt, in der sich die Nachkriegsträume von sozial-revolutionärer Umgestaltung erledigt hatten. Partizipation und individuelle Freiheit, im Politischen de facto reduziert auf den periodisch wiederkehrenden Wahlsonntag, schienen in der Freiheit des privaten Konsums exemplarisch verwirklicht – in »Homologie mit der parlamentarischen Demokratie unseres repräsentativen Typus« (Jameson 1995). Aber der Begriff der K wird auch zum Ausgangspunkt einer Kritik an einigen ihrer Erscheinungsformen: Ausdrücke wie Konsumterror oder Wegwerfgesellschaft – mit der als ›Eigenschaft‹ eines schlechten Subjekts vorgestellten Verschwendungssucht – bringen ein Zuviel auf den Begriff, dessen Negation sich in Form alternativer Lebensweisen konkretisieren kann, die den Auszug aus der K praktizieren. Ein wertkonservativer Diskurs, der den Verlust von Familiensinn und Opferbereitschaft beklagt, aber die gesellschaftlichen Bedingungen, die ihn hervorbringen, unangetastet lässt, schmückt sich gern mit dem schönen Wort vom Konsumverzicht, der allerdings nicht zu nachhaltig geübt werden soll, wenn die Konjunktur auf dem Spiel steht.
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