Klasse an sich/für sich

A: abaquah biḏātihā/liḏatihā. – E: class in itself/for itself. – F: classe en soi/pour soi. – R: klass v sebje/dlja sebja. – S: clase en sí/para sí. – C: zizai jieji/ziwei jieji 自在阶级/自为阶级

Michael Vester

HKWM 7/I, 2008, Spalten 736-775

Die Ausdrücke »Klasse an sich«, »Klasse für sich« und »Klasse an und für sich«, die Marx zugeschrieben zu werden pflegen, finden sich bei diesem nicht. Bucharin etwa behauptet in seiner Theorie des historischen Materialismus (1922), Marx verwende die Ausdrücke »Klasse an sich« und »Klasse für sich« in Elend. Doch dort und zumal in dem von Bucharin als Belegstelle zitierten Passus unterscheidet Marx »eine Klasse gegenüber dem Kapital«, in der eine »Masse« von Besitzlosen zusammengewürfelt ist, von einer »Klasse für sich selbst«, in die sich diese Masse über Konflikte, Erfahrungen und Organisation verwandelt (…). Die objektive Lage jener Masse geht ihrer intersubjektiven Realisierung voraus. Daher die auf den ersten Blick paradoxe Einsicht, die E.P.Thompson mit seinem Kontrahenten Althusser teilt, dass der Klassenkampf der Klasse (im vollen Sinn) vorausgeht. (Die Red.)

Als soziale Klassen werden die großen Gruppen bezeichnet, in die sich Gesellschaften teilen und die sich nach ihren ökonomischen Stellungen und Lebenslagen, nach ihren inneren Handlungsdispositionen und ihren äußeren Handlungsmöglichkeiten differenzieren und ggf. einander entgegensetzen. Marx und Engels unterscheiden sie nach ihrer Stellung innerhalb einer historischen Produktionsweise und spezifischer Herrschaftsverhältnisse sowie nach ihrer Praxis im Feld gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen. ›Klasse‹ ist für sie zunächst ein heuristisches Konzept: Wie eine ›Klasse an sich‹ zu einer »Klasse für sich selbst« (…) bzw. vom Objekt zum Subjekt der Geschichte wird, ist nicht aus einer sozio-ökonomisch beschreibbaren Klassenstellung allein »abzuleiten«, sondern muss an den wirklichen historischen Bewegungen »studiert werden« (Engels an C.Schmidt). Gleichwohl werden Marx und Engels zwei verschiedene Doktrinen der Klassenentwicklung zugerechnet, von denen die erste die politische und die zweite die soziale Umwälzung der Gesellschaft stärker betont. Es handelt sich dabei um die Verfestigung historischer Diagnosen, die ursprünglich auf verschiedene Konstellationen und Phasen des Kapitalismus im 19. Jh. bezogen waren und sich nicht notwendig gegenseitig ausgeschlossen haben. Die erste Diagnose geht auf die spezifische Zuspitzung der Klassengegensätze im England der 1840er Jahre zurück: auf eine anhaltende Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen, sinkende Qualifikationsstandards, scheiternde Streik- und Wahlrechtsbewegungen und die Erwartung einer diese Ohnmacht beendenden gewaltsamen Revolution. Sie hat die Vorstellungen einer ›revolutionären‹ marxistischen Klassentheorie noch im 20. Jh. dominiert. – Die zweite Diagnose entstand gleichzeitig, wurde aber erst nach der gescheiterten Revolution von 1848, unterm Eindruck eines anhaltenden internationalen Wachstums der Produktivkräfte und der organisierten Arbeiterbewegung, näher ausgearbeitet. Zusammengefasst ist sie in dem Theorem, dass sich schon innerhalb der kapitalistisch dominierten Ordnung der Widerspruch zwischen den institutionellen Produktionsverhältnissen und den über den Kapitalismus hinausweisenden ökonomischen Produktivkräften entwickle. Die Arbeiterklasse wird als die größte dieser Produktivkräfte und Ausgangsbasis einer institutionellen Gegenmachtbildung verstanden.

Nach 1848 beobachteten Marx und Engels aufmerksam die Entstehung neuer Gegenmachtpotenziale in den fortgeschrittenen Ländern. Sie kritisierten die Verselbständigung des Staatsapparats in Frankreich und die Staatsgläubigkeit in der Arbeiterbewegung und unterstützten demgegenüber die Entstehung unabhängig von Staat und Bürgertum sich organisierender Kräfte in Gestalt genossenschaftlicher, gemeindlicher und föderativer Selbstverwaltung. Gleichzeitig beobachteten sie die v.a. von den Facharbeitergewerkschaften erkämpften Verbesserungen im Arbeits- und Wahlrecht, der Lebens- und Arbeitsverhältnisse und forderten eine staatliche Arbeits-, Sozial-, Gesundheits- und Bildungspolitik zur Verbesserung der sozialen Lage. Diese Verbesserungen würden allerdings das Wachstum des Elends nur eindämmen, nicht aber die grundsätzliche »Unsicherheit der Existenz« (…) beenden, solange nicht auch die politische Macht übernommen sei. Beide Perspektiven zielen auf die Überwindung des Kapitalismus, deuten aber auf unterschiedliche mögliche historische Konstellationen und nationale Wege. Die Verfestigung einander ausschließender Doktrinen war eine Folge der Enthistorisierung ihres Klassenkonzepts.

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