Bewegung
A: ḥaraka. – E: movement. – F: mouvement. – R: dviženie. – S: movimiento. – C: yundong
Karin Weingartz-Perschel (I.), Renate Wahsner (II.)
HKWM 2, 1995, Spalten 193-200
I. Der vorsokratische Dialektiker Heraklit (540-480 v.u.Z.) erhebt B erstmals als Grundqualität der Materie zum philosophischen Prinzip. πάντα ῥεῖ, alles fließt, alles ist in B, im ewigen Fluß und Wechsel der Dinge. Hegel greift diesen Gedanken auf und verleiht ihm einen zentralen Stellenwert innerhalb seiner dialektischen Methode. Ihr treibender Kern ist der Widerspruch als der ewige Widerstreit von Nicht-Identischem, speziell von Subjekt und Objekt. »Das Wesentliche ist, daß jedes Verschiedene, Besondere verschieden ist von einem Anderen, – aber nicht abstrakt irgendeinem Anderen, sondern seinem Anderen.« So ist die »Subjektivität […] das Andere der Objektivität« als »seinem Anderen, und darin liegt eben ihre Identität. Dies ist das große Prinzip des Heraklit« (GeschPhil, I, 1. Teil, D.). Es »ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meiner Logik aufgenommen« (…). […]
Es sind »lebendige, individualisierende, […] die spezifischen Unterschiede produzierende Wesenskräfte« der Menschen (HF), welche die B der Geschichte, der gesellschaftlichen Materie ausmachen. Diese B ist »die erste und vorzüglichste, nicht nur als mechanische und mathematische B, sondern mehr noch als Trieb, Lebensgeist, Spannkraft, als Qual […] der Materie, […] die in poetisch-sinnlichem Glanze den ganzen Menschen« anlacht (…), wie Marx mit Blick auf Bacon schreibt. Die sinnlichen, im Dienste ihres Lebens tätigen Individuen werden schließlich die Entwicklung ihres gesellschaftlichen Seins über die bürgerlichen Verhältnisse hinaustreiben.
II. B – Gegensatz zu Ruhe und zu Substanz – ist in spezifischen Gestaltungen Gegenstand verschiedener Fachwissenschaften; kategorial am präzisesten bestimmt als daseiender Widerspruch. Hegel schreibt: »Es bewegt sich etwas nur, nicht indem es in diesem Jetzt hier ist und in einem anderen Jetzt dort, sondern indem es in einem und demselben Jetzt hier und nicht hier, indem es in diesem Hier zugleich ist und nicht ist. Man muß den alten Dialektikern die Widersprüche zugeben, die sie in der B aufzeigen; aber daraus folgt nicht, daß darum die B nicht ist, sondern vielmehr, daß die B der daseiende Widerspruch selbst ist« (Logik, II, 1. Abschn., 2. Kap., C, Anm. 2). Und im Anschluß an Hegel formuliert Engels: »Die B selbst ist ein Widerspruch; sogar schon die einfache mechanische Ortsbewegung kann sich nur dadurch vollziehn, daß ein Körper in einem und demselben Zeitmoment an einem Ort und zugleich an einem andern Ort, an einem und demselben Ort und nicht an ihm ist. Und die fortwährende Setzung und gleichzeitige Lösung dieses Widerspruchs ist eben die B.« (AD)
Die erste – mittels der ionischen Naturphilosophie gegebene – rationale Welterklärung beruhte auf dem Gedanken der universellen Bewegtheit, der immerwährenden Verwandlung der ἀρχή. Mit den Eleaten wurde de Begriff B dann problematisiert, wurde die B selbst zum Thema. Die Problematik der B erwies sich als Frage nach dem Verhältnis von Denken, Sinnlichkeit und Wirklichkeit. Diese Frage bildet nach wie vor den Kern des B-Problems (vgl. Wahsner 1981; v.Borzeszkowski/Wahsner 1989).
Damit ist schon deutlich, dass das B-Problem – entgegen der üblichen Darstellung – kein ausschließlich naturwissenschaftliches oder naturphilosophisches Problem ist, sondern ein allgemein philosophisches, vielleicht sogar das philosophische Grundproblem.
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