Naturphilosophie

A: falsafat aṭ-ṭabīʽa. – E: philosophy of nature. – F: philosophie de la nature. – R: naturfilosofija. – S: filosofía de la naturaleza. – C: zìrán zhéxué 自然哲学

Renate Wahsner

HKWM 9/II, 2024, Spalten 2190-2202

N ist eine philosophische Disziplin, in der die Philosophie als solche geboren wurde, setzt man ihre Geburt mit der Frage der ionischen Denker nach der ἀρχή (dem Anfang bzw. Ursprung) an. Seither hat jedes große philosophische System ein naturphilosophisches Konzept – wenn nicht explizit, dann implizit. Dies insofern, als eine vermeintlich ausschließliche Beschäftigung mit dem Menschen, dem Erkenntnisvermögen oder der Ethik stets ein bestimmtes Mensch-Natur-Verhältnis, mithin einen bestimmten Begriff von Natur unterstellt. Eines Naturbegriffs bedarf jede Philosophie als Bestimmung des allgemeinsten Objekts, des Anderen des Subjekts oder des Menschen schlechthin.

Dennoch werden direkt oder indirekt Argumente dafür vorgebracht, die N als eine abgelegte Gestalt des Geistes anzusehen. Eines der häufigsten ist der Verweis auf die Existenz einer Naturwissenschaft, die die Naturspekulation überwunden und damit die N überflüssig gemacht habe. Der Eindruck, dass die exakte Naturwissenschaft die N abgelöst hat, wird befördert durch gewisse Indizien, insofern z.B. Arbeiten, die unter dem Namen N auftreten, sich oftmals als nichts anderes denn als Wissenschaftspopularisierung erweisen.

Häufig wird eine ernsthafte metatheoretische Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Fragen in der Wissenschaftstheorie gesehen. Aber es ist dies nicht N, denn sie ist nicht Philosophie im Sinne der Grundbestimmung von Philosophie. Die Naturwissenschaften selbst führen nicht zum Begriff Natur, auch wenn man ihn ohne sie nicht bestimmen kann. Das komplizierte Verhältnis von Naturwissenschaft und N lässt sich, ein Bild von Nikolaus von Kues aufnehmend, mit dem Verhältnis von Kreis und Polygon beschreiben: »Der Geist also, der nicht die Wahrheit ist, erfasst die Wahrheit niemals so genau, daß sie nicht ins Unendliche immer genauer erfasst werden könnte. Er verhält sich zur Wahrheit wie das Vieleck zum Kreis.« (Die belehrte Unwissenheit, I.3) Er begründet dies im Kontext seiner Koinzidenzlehre: Es könnte nichts sein, wenn das schlechthin Größte nicht wäre. »Denn da alles Nicht-Größte begrenzt ist, hat es auch einen Ursprung. Es hat sein Sein notwendigerweise von einem anderen. Wäre es aus sich selbst, so wäre es vor seinem Sein schon gewesen.« Sein Sein wird bestimmt durch das Ganze. Nur das Ganze, in dem alle Gegensätze zusammenfallen (coincidentia oppositorum), nur das Unendliche, ist das Wahre. Dieses können wir aber nur – wie Nikolaus von Kues erkannte – »per similitudinem«, d.h. durch »Anähnelung« erfassen (I.3). Die Wissenschaften erfüllen diese Funktion der Anähnelung.

N ist deshalb keine überholte Gestalt des Geistes, sondern eine zu entwickelnde. Gegenstand der Philosophie ist stets das Ganze, die Einheit, in der alle Gegensätze zusammenfallen, daher ist N als Naturdialektik zu konzipieren. Zu ihr wird man nicht ohne die großen naturphilosophischen Systeme gelangen, v.a. nicht ohne die von Kant und Hegel, allerdings nicht durch deren schlichte Adaption bzw. Aktualisierung, auch nicht durch die gängige Devise »vom Kopf auf die Füße stellen« – es sei denn, man versteht diese Kurzformel nicht trivial, sondern fasst sie so auf, dass in ihr ein tiefes Problem steckt, das kritisch aufgedeckt und eventuell gelöst werden kann.

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n/naturphilosophie.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/04 20:11 von christian     Nach oben
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