Naturalform
A: aš-šakl aṭ-ṭabīʽī. – E: natural form. – F: forme naturelle. – R: natural’naja forma. – S: forma natural. – C: zìrán xíngshì 自然形式
Hansjörg Tuguntke
HKWM 9/II, 2024, Spalten 2007-2015
N gehört – als Komplementärbegriff zu Wertform – zu den zentralen Formbegriffen, die Marx seiner Ökonomiekritik zugrundelegt. Der Begriff zielt auf die konkret-nützliche Seite der Arbeit und der von ihr geschaffenen Gebrauchswerte. Die Betrachtung der gegenständlichen Form der Ware – ihre Gebrauchsgestalt – liegt als solche zunächst »jenseits der politischen Ökonomie«, da sie »den disparatesten Produktionsepochen gemeinsam sein kann«; der Gebrauchswert fällt jedoch in den »Bereich« der politischen Ökonomie, »sobald er durch die modernen Produktionsverhältnisse modifiziert wird oder seinerseits modifizierend in sie eingreift« (Gr, 42/767).
Mit dem Begriff der N stellt sich die der marxschen Herangehensweise eigene Frage nach dem spezifischen Formausdruck der Produktionsverhältnisse. Gebrauchswerte sind nicht nur »unmittelbar Lebensmittel«, die Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigen können, sondern zugleich »Produkte des gesellschaftlichen Lebens« (Zur Kritik, 13/16). Als durch Arbeit vergegenständlichte, für menschliche Zwecke hergestellte Gebrauchswerte nehmen sie gesellschaftliche Funktion an. Als Ware produziert, fungieren sie mithin als für den Austausch bestimmte »gesellschaftliche Gebrauchswerte« (K I, 23/55). Die N dieser Waren ist ebenso Kulturform wie die »verschiednen Arbeiten« selbst »in ihrer N gesellschaftliche Funktionen« sind, so bereits bei der Bauernfamilie, die nur zum eigenen Bedarf produziert, aber »ihre eigne, naturwüchsige Teilung der Arbeit besitzt«, diese jedoch nicht Wertform (92). Erst mit der Verallgemeinerung der Wertform, wie sie die bürgerliche Wirtschaftsweise kennzeichnet, vermittelt nicht länger konkret-nützliche Arbeit den ökonomischen Zusammenhang der Gesellschaft. Der kapitalistische Produktionsprozess unterwirft den Gebrauchswert der Waren dem Verwertungsbedürfnis des Kapitals. Doch bleibt die N der Ware Ausdruck eines ›Anderen‹ innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft, das – aufgrund seiner ökonomischen Formbestimmtheit – im Zuge seiner die naturalen Lebensgrundlagen der Menschen gefährdenden Verschleuderung aufgezehrt und substanziell vernichtet zu werden droht.
Mit den komplementären Begriffen N und Wertform ringt Marx der Sprache eine semantische Differenzierung ab, welche die Einheit der gegensätzlichen Formen analytisch aufzutrennen erlaubt und die formspezifischen Funktionsaspekte der Ware unterscheidbar macht. Als Waren erscheinen die Arbeitsprodukte nur, »sofern sie Doppelform besitzen, N und Wertform« (62). Den »rätselhaften Charakter des Arbeitsprodukts, sobald es Warenform annimmt«, analysiert Marx als »aus dieser Form selbst« entspringend (86). In ihrer »hausbackenen N«, in der die Waren ›zur Welt kommen‹, präsentieren sie sich erst einmal in ihrer konkreten, »sinnlich groben Gegenständlichkeit« (62) als nützliche Arbeitsprodukte, d.h. sie gehen »zunächst unvergoldet, unverzuckert, wie der Kamm ihnen gewachsen ist, in den Austauschprozess ein«; dort aber verdoppelt sich die Ware »in Ware und Geld« und stellt ihren »immanenten Gegensatz von Gebrauchswert und Wert« als »äußeren Gegensatz« dar (119).
In seiner genetischen Rekonstruktion der Wertform zeigt Marx, wie die N der Ware in die Funktion des Wertspiegels rückt. Jede bestimmte N einer Ware gilt nun als besondere Äquivalentform der anderen. Daher treten die gesellschaftlichen Charaktere der Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte auf. Vermittelt durch das vielfach sich überkreuzende Tauschgeschehen auf dem Markt werden den Waren »gesellschaftliche Beziehungen als ihnen immanente Bestimmungen« zugeschrieben und »sie so mystifiziert« (42/588). Sie erscheinen fetischhaft als deren Natureigenschaften. Die »Befestigung dieses falschen Scheins« verfolgt Marx vom einfachsten Wertausdruck bis zu dem Moment, in dem »die allgemeine Äquivalentform mit der N einer besondren Warenart verwachsen oder zur Geldform kristallisiert ist« (23/107).
Für Marx sind Waren von bestimmter stofflicher Substanz. Die Entwicklung der Arbeitsteilung und der Produktivkräfte innerhalb der kapitalistischen Produktion bringt jedoch N.en von Waren hervor, die eine Modifikation der Produktionsverhältnisse nach sich ziehen. Es sind dies N.en, denen keine stoffliche Materialität zuzukommen scheint. Ihre praktische, konkret-nützliche Gebrauchsgestalt bleibt indes unaufhebbar an deren stoffliche Realisation gebunden. Das gilt sowohl für die N.en, die sich im Dienstleistungssektor herausbilden, als auch für digitale Waren, die seit Ende des 20. Jh. größer werdende ökonomische Bedeutung erlangen und deren historisch-materialistische Untersuchung zwei Seiten in Betracht ziehen muss: erstens »den stofflichen Gerätekomplex, der erforderlich ist, um digitale Objekte zu generieren, zu transportieren und zu nutzen«, und zweitens »die nichtstoffliche Materialität der digitalen Objekte« (Haug 2003, 113). Der Begriff der N erlaubt es, diese Veränderungen in ihren Rückwirkungen auf die Produktions- und Lebensweise und deren Naturbedingungen nachzuzeichnen.
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