Naturverfallenheit
A: suqūṭ fī aṭ-ṭabīʽa. – E: fallenness into nature. – F: retombée dans la nature. – R: obrečënnost’ prirode. – S: caída bajo el dominio de la naturaleza, sometimiento a la naturaleza. – C: zìrán bàiluò, chénnì zìrán 自然败落, 沉溺自然
Jan Loheit
HKWM 9/II, 2024, Spalten 2239-2258
Im Ausdruck N schwingt noch Marx’ Verdikt über alle durch Klassenherrschaft geprägte Geschichte als bloße »Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft« mit (Vorw 59, 13/9). In den Sinn, den N in der Sprache der Frankfurter Schule der Kritischen Theorie, zumal in Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung, erhalten hat, mischt sich die Erfahrung des versäumten Augenblicks, der historischen Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung, mit existenzialen Motiven, die in der okzidentalen Mythengeschichte verwurzelt sind. Ihm liegt der Gedanke zugrunde, dass »alles Lebendige«, wie Horkheimer und Adorno unterm Eindruck von Faschismus und Zweitem Weltkrieg schreiben, »unter einem Bann steht«, der dem Gewordensein der Dinge den naturhaften Schein des Ansichseienden und Immergleichen verleiht (1944, DA, Adorno GS 3, 296). Der Zuwachs an ökonomischer Produktivität habe zwar »die Bedingungen für eine gerechtere Welt« hergestellt, zugleich aber »dem technischen Apparat und den sozialen Gruppen, die über ihn verfügen, eine übermäßige Überlegenheit über den Rest der Bevölkerung« verliehen (14). Der »gesellschaftliche Fortschritt« sei daher, solange er sich blind und planlos ereignet, »nicht abzulösen« von der »N der Menschen« (ebd.).
Um jenes Verschränktsein von Natur und Geschichte auf den Begriff zu bringen, verankern Horkheimer und Adorno ihre Kritik in der Idee einer allegorischen Naturgeschichte. Dass die menschliche Geschichte sich noch immer als Naturgeschichte ereignet, ist Adornos Deutung nach das »Bewegungsgesetz der bewusstlosen Gesellschaft«, wobei dieses Gesetz seinerseits aber keine »unveränderliche Naturgegebenheit« ist (ND, 1966, GS 6, 349).
Der Ausdruck Verfallenheit konnotiert eine Sucht, kraft derer vernünftige Lebensführung einer Triebhaftigkeit zum Opfer fällt. Seine schillernde Vieldeutigkeit und mythisch-existenziale Färbung machen der Übersetzung große Schwierigkeiten. Ein Licht auf den Sinn, den er in kritisch-theoretischer Sprache erhält, fällt vom utopischen Gegenbild auf ihn: das »Entronnensein« aus der Verfallenheit ist Horkheimer und Adorno zufolge die »Heimat«, in der noch niemand war (DA, Adorno GS 3, 97). Aber nicht der Natur ist zu entrinnen, sondern der naturwüchsigen Vergesellschaftung: »Die Freiheit in diesem Gebiet«, heißt es schon bei Marx, »kann nur darin bestehn, dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, […] ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden« (K III, 25/828).
Der Gedanke der N setzt den marxschen Impuls fort, setzt ihm aber den geschichtsphilosophisch radikalisierten Zweifel entgegen, der in der Erfahrung gründet, dass die bürgerliche Gesellschaft »Mittel und Wege gefunden« habe, den »unablässigen Fortschritt […] so in ihrem Bann zu halten, dass die – für Marx noch selbstverständliche – Äquivalenz zwischen dem Fortschritt der Produktivkräfte und der Befreiung der Menschheit […] nicht mehr gilt« (Adorno, 1965/66, NgS IV.16, 76). Fortschritt wird, bleibt er der Besinnungslosigkeit einer vom kapitalistischen Verwertungstrieb beherrschten technischen Rationalität verhaftet, zu einer planetaren Bedrohung: »Absolute Naturbeherrschung ist absolute N« (1962, GS 10.2, 628).
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