Naturdialektik
A: ǧadal aṭ-ṭabīʽa. – E: dialectics of nature. – F: dialectique de la nature. – R: dialektika prirody. – S: dialéctica de la naturaleza. – C: zìrán biànzhèngfǎ 自然辩证法
Wolfgang Fritz Haug
HKWM 9/II, 2024, Spalten 2109-2174
Zu Friedrich Engels’ dreißigstem Todestag erschien in Moskau 1925 auf Deutsch und Russisch dessen als philosophisches Grundlagenwerk des Marxismus vorgestellte Naturdialektik / Dialektika prirody. Dawid B. Rjasanow, der Leiter des moskauer Marx-Engels-Instituts, war 1923 – noch lebte Lenin – bei Eduard Bernstein in Engels’ Nachlass auf einen Stapel einschlägiger Planskizzen und Entwürfe unterschiedlicher Ausarbeitungsgrade gestoßen und hatte sie kopiert. Alsbald begann im moskauer Institut »die mühselige Entzifferung der zum größeren Teil in stark verkürzter Schrift verfassten Manuskripte« (I.26/597). Die damalige politische Situation verlangte nach einem zweiten, philosophischen, durch die Autorschaft eines der beiden Gründer des Marxismus legitimierten Grundlagenwerk. Nach dem durch existenzbedrohende Krisen – darunter der Kronstädter Aufstand von Februar/März 1921 – erzwungenen Rückzug aus dem Kriegskommunismus in die Neue Ökonomische Politik im März 1921, dem Rückzug der KPR(B) auf politische Kommandohöhen, der Wiederzulassung ökonomisch operativen Privateigentums mit den Folgen sich verschärfender sozialer Ungleichheit machten sich wachsende Widersprüche zwischen marxistischen Ideen und wirklichen Verhältnissen geltend.
In diese Zeit fiel überdies Lenins Tod (Januar 1924), eine Situation, von der es in Bertolt Brechts Kantate zu Lenins Todestag heißt: »Als Lenin ging, war es / Als ob der Baum zu den Blättern sagte: / Ich gehe.« (GA 12, 60) In dieser komplex überdeterminierten Lage versprach sich die Führung der Ende 1922 gegründeten Sowjetunion von Engels’ postumem Werk einen Beitrag zur ideologischen Stabilisierung.
Diese vom historischen Kontext gezeichnete Werkbildung ist nach einigen Revisionen – darunter der Änderung des deutschen Titels in »Dialektik der Natur«, die den Akzent auf objektive Dialektik verschiebt – durch Übersetzungen in vermutlich alle großen neuzeitlichen Schriftsprachen weltweit wirksam geworden und wirkt noch ein Jahrhundert später weiter. Unter Stalin als philosophische Grundlage des ML ausgelegt, wird es in der Marx-Engels-Werkausgabe 1962 als »ein grundlegendes Werk des Marxismus« (20/646, Anm. 162) vorgestellt. Die MEGA² zieht 1985 die Bedeutung für die Naturwissenschaften zurück und charakterisiert es als »ein grundlegendes philosophisches Werk des Marxismus« (I.26/18*). Im Einflussbereich des ML nur von einzelnen Intellektuellen bezweifelt, war außerhalb des ML dessen marxistische ›Legitimität‹ von Anfang an umstritten.
Worum genau aber es in Engels’ »Philosophisch-naturwissenschaftlichen Manuskripten«, wie Kaan Kangal sie sachgemäß bezeichnet (2019, 239), tatsächlich geht, ist ebenso klärungsbedürftig wie deren Verhältnis zu den theoretischen Schriften von Marx. Für die Gründer des Marxismus geht es bei der Antwort auf die N-Frage darum, ohne Schöpfungsmythen und auf erfahrungswissenschaftlicher Grundlage die Natur als universellen Entstehungs-, Wirkungs- und Entwicklungszusammenhang zu begreifen. Hierin trifft sich die materialistische Geschichtsauffassung mit aller modernen Naturwissenschaft; das N-Thema ist ihr unabhängig von der Bewertung seiner engelsschen Bearbeitung mit auf den Weg gegeben.
In Fällen postumer, historisch-politisch bedingter Konstitution autoritativer Werke kommt editorisch-philologischen Gesichtspunkten besondere Bedeutung zu. Da Engels’ N-Studien zudem Interpretationshoheit sowohl auf naturwissenschaftlichem als auch auf philosophischem Gebiet (hier v.a. beim Dialektikverständnis) beanspruchen, fanden und finden sich marxistische Exponenten dieser Bereiche zur Probe auf die Tragfähigkeit von Engels’ N-Thesen herausgefordert. Überdies realisierte bereits Engels, dass das Wissenschaftsmaterial, dessen Widersprüche er dialektisch durchgearbeitet hatte, rasch veraltete und mit ihm seine Kritik. – Ein Jahrhundert später bieten die Naturwissenschaften dialektischem Denken ganz andere Andockpunkte und stellen ihm andere Aufgaben. Zugleich macht ein fundamentales Realproblem der gesellschaftlichen Mensch-Natur-Dialektik unterm Namen Klimakrise zunehmend destruktiv Furore.
Dieser Vielschichtigkeit versuchen wir in sechs Schritten Rechnung zu tragen: 1. Zur N-Problematik bei Marx. – 2. Engels’ N-Projekt, Text-Nachlass und Editionsgeschichte. – 3. Paradigmen naturwissenschaftlichen Arbeitens mit dem N-Konzept. – 4. Paradigmen philosophischer Ausarbeitungen. – 5. Interdisziplinäres Paradigma kritischer Weiterentwicklung: Lucien Sève u.a. – 6. Diskussionsergebnisse und offene Fragen.
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