Naturalwirtschaft
A: iqtiṣād kafāf. – E: natural economy. – F: économie naturelle. – R: natural’noe chozjajstvo. – S: economía natural. – C: zìrán jīngjì 自然经济
Lutz Brangsch, Thomas Pappritz
HKWM 9/II, 2024, Spalten 2080-2099
N hat im marxistischen Diskurs drei begriffliche Bezugsebenen: als Grundlage aller vorkapitalistischen Produktionsverhältnisse; als Gegensatz zur kapitalistischen Warenproduktion und Objekt der Zerstörung durch deren allgemeine Durchsetzung; und als Gegenstand einer übergreifenden Betrachtung der Dialektik von Gemein- und Privateigentum, von Urkommunismus und modernem Kommunismus.
Die ersten beiden Ebenen weisen die größten Schnittmengen mit dem allgemeinen kategorialen Gebrauch auf, wonach N »eine autarke, auf Eigenproduktion und Bedarfsdeckung ausgerichtete […] Wirtschaftsstufe oder -form« ist, in der »die Wirtschaftsgüter ›in natura‹, d.h. als solche und nicht durch Vermittlung des Geldes, ausgetauscht werden« (Brockhaus Enzyklopädie, 19.A., Bd. 15, 1991, 376). Diese Definition enthält Bestimmungen, die bei Marx und in marxistisch orientierten Forschungen ebenfalls vorkommen: Für die N ist wesentlich, »dass die Wirtschaftsbedingungen ganz oder doch zum allergrößten Teil [aus] der Wirtschaft selbst erzeugt, aus dem Bruttoprodukt derselben unmittelbar ersetzt und reproduziert werden« (K III, 25/803). Indem »kein oder nur ein sehr unbedeutender Teil des agrikolen Produkts in den Zirkulationsprozess eintritt« (794), existieren die Produzentinnen und Produzenten relativ unabhängig vom Markt bzw. der restlichen Gesellschaft und führen ein weitgehend selbstgenügsames, damit auch relativ ›entwicklungsarmes‹ bäuerliches Familienleben. Daneben ist »häusliche Handwerks- und Manufakturarbeit, als Nebenbetrieb des Ackerbaus, der die Basis bildet, […] die Bedingung der Produktionsweise, worauf diese N beruht« (794f).
Bürgerliche und marxistische Auffassungen unterscheiden sich also darin, dass letztere die N theoretisch nicht vorrangig mit der Zirkulations-, sondern mit der Produktionssphäre verbinden. Naturalaustausch und Ware-Geld-Beziehungen sind als Verkehrsformen immer zuerst Ausdruck bestimmter Produktionsweisen. Während vom Standpunkt der kapitalistischen Warenproduktion N und die auf ihr beruhenden Lebensformen als Hemmnisse auf dem Weg zum Kapitalismus erscheinen, gewinnen sie bei Marx v.a. im Spätwerk mit Blick auf mögliche Übergänge zu nachkapitalistischen Gesellschaften eine neue Bedeutung. N wird nicht mehr nur unterm Gesichtspunkt der Vorgeschichte der kapitalistischen Produktionsweise gesehen, sondern als Moment der jeweils historisch gegebenen Totalität zum gesonderten Gegenstand einer umfassenden Geschichtsbetrachtung. Im Anschluss an die Forschungen von Lewis Henry Morgan über das Gemeineigentum nordamerikanischer Indigener entwickelt Marx eine »multilineare« historisch-materialistische Konzeption (Musto 2018, 78), die nicht nur vom Nacheinander, sondern auch vom Nebeneinander und der Vermischung unterschiedlicher Formen ausgeht, die mehr oder weniger stark auf N beruhen (vgl. Küttler 1978, 257f; 2016, 30). Dabei steht die Dorfgemeinde im Mittelpunkt; sie ist nicht identisch mit N, aber die N bildet ihre ökonomische Grundlage.
Da die Frage, wie die kapitalistische Produktionsweise überwunden werden kann, mit der nach Warenwirtschaft und N zusammenhängt, ist letztere für antikapitalistische Bewegungen von zentralem Interesse. Mit neuen Formen des Kolonialismus ab Ende des 19. Jh. werden sowohl die N als auch die Prozesse ihrer Zerstörung in nationalen Befreiungsbewegungen und in der internationalen Arbeiterbewegung problematisiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg werden Gemeinschafts-, Eigentums- und Herrschaftsformen wie auch die jeweiligen Rechtssysteme in verschiedenen Produktionsweisen und Kulturen mit Bezug auf N und Warenwirtschaft verstärkt untersucht. Das Verschränktsein von naturalwirtschaftlich verankerter unmittelbarer Vergesellschaftung und patriarchaler Herrschaft rückt die Geschlechterverhältnisse in den Blick. Seit Anfang des 21. Jh. gewinnen Elemente und Traditionen der N wachsende Bedeutung für die Suche nach Alternativen zum Kapitalismus.
➫ Abkopplung, afrikanische Produktionsweise, Agrarfrage, Agrarreform, Akkumulation, altamerikanische Produktionsweise, Anthropologie, Arbeitsteilung, asiatische Produktionsweise, Aufhebung, Bauern, Bauernbewegung, Bodenreform, chinesische Revolution, Dorfgemeinschaft, Dualwirtschaft, Eigentum, einfache Warenproduktion, Entbettung, Enteignung, Erde, Familie, Familienarbeit/Hausarbeit, Feudalismus, Formationenfolge/vorkapitalistische Gesellschaftsformationen, Formationstheorie, Fortschritt, Gemeinwesen, Genossenschaft, germanische Gemeinde, Geschlechterverhältnisse, Gesellschaftsformation, Handel, Hausarbeitsdebatte, häusliche Produktionsweise, Indiofrage, Industrialisierung, Kapitalismusentstehung, kapitalistische Produktionsweise, Kleinbauern, kleine (einfache) Warenproduktion, Kollektivierung, koloniale Produktionsweise, Kolonialismus, Kommune, Kriegskommunismus, Lohnarbeit, Markt, Marktwirtschaft, Matriarchat/Mutterrecht, Mischformation, Mischwirtschaft, moralische Ökonomie, Morgan-Lektüre, nachhaltige Entwicklung, nationale Befreiung, Naturalform, naturwüchsig, öffentliche Güter, Patriarchat, Periodisierung der Geschichte, Privateigentum, Privatisierung, Sassulitsch-Briefe, Solidarität, Sozialismus, Subsistenzproduktion, Tausch, Tradition, Übergang, Ujamaa, Umwälzung, Unmittelbarkeitskommunismus, Urkommunismus, ursprüngliche Akkumulation, ursprüngliches Gemeinwesen, utopischer Sozialismus, Volkskommune, Volkstümler, vorkapitalistische Produktionsweisen, Ware, Weltmarkt, Zapatismus