moralische Ökonomie

A: iqtiṣād ’aḫlāqī. – E: moral economy. – F: économie morale. – R: moral’naja ėkonomija. – S: economía moral. – C: dàodé jīngjì 道德经济

Michael Vester

HKWM 9/II, 2024, Spalten 1401-1444

Das Konzept der mÖ wird von Edward Palmer Thompson zuerst 1963 in seinem Hauptwerk The Making of the English Working Class am Beispiel der als ›food riots‹ bezeichneten Volkserhebungen am Vorabend der industriekapitalistischen Revolution im England des 18. Jh. eingeführt. Über die weiter ausgearbeitete Analyse in seinem berühmten Essay The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century von 1971 erlangt es eine breite wissenschaftliche und politische Wirkung. Viele übertragen den Terminus mÖ nun auch auf andere Kontexte jenseits der auf den Markt zentrierten Auseinandersetzungen um den Zugang zu ›Lebensnotwendigem‹, also in erster Linie zu Nahrungsmitteln. In der Reflexion dieser Wirkung präzisiert Thompson den Begriff (1991, 337-45). Er grenzt sich dabei ab von einem weit verbreiteten Gebrauch, der den Terminus aus dem Kontext spezifischer Auseinandersetzungen und historischer Formationen löst und zudem auf ›moralökonomische Werte‹ reduziert, nach denen der Kapitalismus ›moralischer‹ gestaltet werden soll. Thompson hält den Begriff für verallgemeinerbar, reserviert ihn aber für Gewohnheiten, Vorstellungen, Protestformen und Produktionsweisen, die Alternativen zu kapitalistischen Entwicklungen artikulieren. Insofern steht Thompson noch in der an Marx orientierten Tradition der Sozialhistorik in England, der es um eine Transformation der kapitalistischen Produktionsweise und Gesellschaft geht.

Die wachsende Resonanz des Konzepts beruht darauf, dass Thompson diese Tradition für Fragestellungen der Gegenwart weiterentwickelt. Er bringt sie mit vielfältigen Bedeutungen der Verbindung von Moral und Ökonomie so zusammen, dass ein theoretisch trennscharfer und prägnanter Begriff entsteht. Thompson vermittelt dabei drei Bündel von Bedeutungen miteinander: die normativ-institutionelle Dimension sozialer Gerechtigkeit, die emotional-aktionsbezogene Dimension des Konfliktverhaltens und die politisch-ökonomische Dimension einer nachkapitalistischen Produktionsweise. Mit diesen drei Komponenten greift er gleichzeitig kritisch in aktuelle politische und wissenschaftliche Debatten ein.

Erstens interveniert er in die Diskussion um die Wiederentdeckung der Alltagskultur der Volksklassen v.a. seit den 1960er Jahren. Thompson geht nicht von ideellen, sondern von praktischen Normen der Moral aus, von dem erfahrungsbezogenen Moralbegriff eines kulturellen Materialismus, der nach dem Vorbild der Ethnologie die in Sitten, Gewohnheiten, Überlieferungen, Bedürfnissen und Institutionen verkörperten Strukturen der sozialen Beziehungen des Alltagslebens untersucht. Er wertet das Alltagsbewusstsein der Volksklassen nicht als unreflektiert ab, sondern entdeckt in ihm historisch tradierte, moralisch oder auch rechtlich legitimierte Ansprüche sozialer Gerechtigkeit, d.h. gewisse, wenn auch ungleiche wechselseitige Verpflichtungen der Klassen (1991, 343), bei denen es um die Sicherung des (Über-)Lebens geht.

Zweitens rehabilitiert Thompson die soziokulturellen, sinnlich-emotionalen, körperlichen und symbolischen Formen des Konflikt- und Protestverhaltens, d.h. – in der Terminologie von Marx – des Widerstands und der »umwälzenden Praxis« (ThF, 3/534). Damit löst Thompson, empirisch wie theoretisch, auch das in Marx’ Feuerbach-Thesen formulierte Postulat der »Praxis« als »sinnlich menschliche Tätigkeit« (3/5) ein. Thompsons Fragestellung, inwiefern die Volksklassen des 18. Jh. auch als »historisches Subjekt« verändernder Praxis verstanden werden können (1971/1980a, 67), führt ihn zur Untersuchung der »mentalité« bzw. »politischen Kultur« (1991, 260). Zu einem zentralen Leitmotiv aller seiner Untersuchungen zum 18. Jh. wird daher die mit einer Fülle von Dokumenten belegbare Vitalität einer »plebeischen Kultur«, die »rebellisch« ist (1978/1980a, 275), was der Annahme vieler Historiker widerspricht, die dieser Kultur einen Habitus der »Ehrerbietung [deference]« (1991, 335) gegenüber den Autoritäten zuschreiben. In diesem Zusammenhang betont Thompson bes. die Fruchtbarkeit des Habitus-Konzepts von Pierre Bourdieu, da mit diesem nicht nur die kognitiv-mentalen, sondern auch die sinnlich-körperlichen Handlungsdispositionen der Individuen den verschiedenen Klassen und Klassenfraktionen zugerechnet werden können: »Bourdieu does what I should have done« (Thompson 1977).

Viele neuere Forschungen greifen die Anregung von Thompson, George Rudé u.a. auf, die Revolten »auf bestimmte, bislang unbekannte Muster sozialen Verhaltens« zurückzuführen anstatt sie, wie sonst oft, als »elementaren Ausbruch« und »scheinbare Irrationalität« einer unreflektierten ›Masse‹ zu mystifizieren (Schulze 1982, 20). Diese Forschungen erklären – im Sinne einer mÖ – die Aktionsformen durch die von der Alltagskultur geregelten emotionalen Formen, durch ihre Legitimation aus historischen Klassenkompromissen sowie durch den gemeindlichen Gerechtigkeitskonsens, der die Schaffung einer plebejischen Gegenöffentlichkeit und Praxis ermöglicht, in der Frauen eine spezifische, oft tragende Rolle spielen.

Drittens ist Thompsons Ansatz als Beitrag zur Analyse historischer Produktionsweisen angelegt. Seine empirischen Untersuchungen widmen sich der letzten Phase einer langen Reihe von Konfrontationen, die eng verwoben sind mit der Entwicklung der Produktionsweisen und -verhältnisse in der Formationsperiode des Kapitalismus. Während dieser Periode koexistieren und ringen vorkapitalistische Gesellschafts- und Gerechtigkeitsvorstellungen mit den vordringenden (früh)kapitalistischen Umwälzungen – nicht zuletzt schon während der deutschen Bauernaufstände von 1524-26, die sich selbstbewusst auf alte Rechte und religiöse Moralgrundsätze berufen. Die Formen und die lange historische Kontinuität einer mÖ erhellen sowohl Forschungen der ›klassischen‹ Tradition – von Richard Henry Tawney, Max Beer, Eduard Bernstein, George Douglas Howard Cole u.a. – als auch der neueren ›Geschichtsforschung von unten‹. Letztere entwickeln seit den späten 1950er Jahren v.a. Angehörige der britischen Communist Party Historians Group (wie Christopher Hill, Rudé, Eric Hobsbawm, Raphael Samuel, John Saville und Thompson selbst, von denen die letzten drei, als politische Aktivisten, nach der Niederschlagung des Ungarnaufstands 1956 mit der Partei brechen und die breite Bewegung der New Left begründen) und ›parteinahe‹ bis ›parteioffizielle‹ französische Historiker (wie Georges Lefebvre, Albert Soboul u.a.), die sich ebenfalls kritisch mit dem Stalinismus und der dominanten ökonomistischen Klassentheorie auseinandersetzen. Von dieser Strömung und teilweise von Thompson direkt beeinflusst sind umfangreiche Forschungen in der BRD, der DDR und der Schweiz wie u.a. von Hellmut G. Haasis, Winfried Schulze, Hans Medick, Jürgen Kuczynski, Rolf Graber, Josef Mooser, Mario Keller, Heiko Geiling und Heinz Reif, von denen die letzten drei auch bereits untersuchen, wie weit die Muster des moralökonomischen Widerstands bei der Umstellung (Rekonversion) der arbeitenden Klassen auf die neue, industriekapitalistische Produktionsweise modifiziert weiterwirken.

Einerseits füllen diese Analysen der Verarbeitungsformen und Kämpfe eine Leerstelle in Marx’ Analysen der »ursprünglichen Akkumulation« wie auch der agrarisch-industriellen Revolution. Andererseits können sie an zentrale Einsichten über die historisch-ökonomische Entwicklung bei den Frühsozialisten und bei Marx anknüpfen – bes. bei der Frage, wie die Wesenszüge der historischen Dorfgemeinschaft, v.a. die Vereinbarkeit von individueller Freiheit und sozialer Gleichheit, auf höheren Entwicklungsstufen der Produktivkräfte wiederkehren können. Diese auch schon innerhalb des industriellen Kapitalismus weiterentwickelten Formen gesellschaftlicher Organisation findet Marx in einer »politischen Ökonomie der Arbeit« (Inauguraladresse, 16/11), die über die »assoziierte« Produktionsweise (K III, 25/456) der Genossenschaften und über die gewerkschaftlich erkämpfte Sozialpolitik (z.B. den gesetzlichen Zehnstundentag) in die kapitalistische Ökonomie eingreift, und später in der direkten, gemeindlich basierten politischen Demokratie nach dem Vorbild der Pariser Kommune. Bei den Frühsozialisten und bei Marx finden sich viele, bisher wenig beachtete Anhaltspunkte dafür, dass die Notwendigkeit einer assoziierten Produktionsweise zwar vornehmlich politökonomisch, mit der Arbeitswertlehre, begründet wird, dass dadurch aber die frühere Begründung, mit dem Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit, nicht verdrängt, sondern nur überlagert wird.

Als theoretische Kritik zielt Thompsons Analyse exemplarisch auf Adam Smiths Ansatz, der die Unterschiede zwischen der kapitalistischen und der vorangehenden Produktionsweise auf logische Modelle des Marktes reduziert. Thompson analysiert den Konflikt zwischen den Volksklassen, die an der sozialpolitischen Regulierung des Strukturwandels nach dem alten paternalistischen Modell festhalten, und den Interessengruppen des expandierenden Agrarkapitals, die das neue Modell eines vollkommenen, deregulierten Marktes durchsetzen wollen und dafür in Smiths politischer Ökonomie eine theoretische Rechtfertigung finden. Dem Denken in logischen Modellen stellt Thompson das Konzept der Gesellschaft als »Kraftfeld« entgegen (1991, 93-96), das dem Habitus-Feld-Konzept von Bourdieu nahekommt (vgl. Vester 2008, 771ff) und das er auch auf Antonio Gramscis Konzepte von Alltagsbewusstsein, Feld und Hegemonie (vgl. Vester 2018, 902-06) und auf Marx’ Grundrisse bezieht (Thompson 1991, 10f, 73 u. 86f). Mit dem Konzept des Kraftfelds kann Thompson erklären, warum auch bei kapitalistischer Hegemonie Raum für eine Gegenmachtpolitik von unten ist.

Dass Thompson in seinem Essay von 1971 die Teuerungskonflikte des 18. Jh. eingehend auch als Konfrontation mit dem Marktmodell von Smith beschreibt, gibt der mÖ eine theoretische Pointe als Gegenbegriff zur kapitalistischen politischen Ökonomie auch in den politischen Kontroversen seit den 1970er Jahren. Der Essay löst jahrelange Kontroversen und Forschungen nicht nur zur Formationsperiode, sondern auch zur gegenwärtigen Entwicklung des Kapitalismus aus. Dabei geht es zum einen um die Kritik der Modernisierungstheorie, die seit den 1950er Jahren die Durchsetzung des kapitalistischen Entwicklungsmodells im globalen Süden legitimiert und damit an ähnliche Übergangsphasen seit dem 16. Jh. in Europa erinnert. Thompson findet daher anhaltende Resonanz in den internationalen Kontroversen um die kapitalistische Bedrohung der mÖ.n im globalen Süden, v.a. in den Peasant Studies und verwandten Projekten, die auch die Umweltzerstörung als Thema des, auch indigenen, moralökonomischen Protests untersuchen.

Zum anderen geht es um die Kritik am neoliberalen Marktfundamentalismus. Als Alternativen zu diesem entwickeln sich seit den 1970er Jahren verschiedene Formen einer neuen solidarischen Ökonomie. Sie verbinden alte moralökonomische Traditionen mit auf Nachhaltigkeit orientierten Impulsen einer partizipatorischen Demokratie bzw. Zivilgesellschaft. Diesen Initiativen entspringt eine neue Generation von solidarischen Wirtschaftsunternehmen wie auch eine öffentliche Sozialpolitik von unten. Sie umfassen vielfältige Formen und Perspektiven von Alternativwirtschaft, Genossenschaften, Commons, Care-Ökonomie, Erneuerung der Welfare Economics, gemeinwohlorientierter Infrastrukturökonomie, Wirtschaftsdemokratie usw.

Wie Elmar Altvater betont, reichen die historischen Wurzeln der solidarischen Ökonomie in die Traditionen der mÖ und der sozialen Bewegungen zurück: »Überall in der Welt entstehen alternative Ansätze der Organisation von Arbeit in der so genannten Solidarischen Ökonomie. Diese entwickelt sich spontan, und zwar nicht erst zu Beginn des 21. Jh., sondern oft auch schon in der Geschichte. Sie knüpft an den Erfolgen der Genossenschaftsbewegung des 19. und 20. Jh. in Europa, aber auch in Lateinamerika und anderswo an. Sie ist Ausdruck jener ›mÖ‹, die immer schon als Alternative zum kapitalistischen Betrieb praktiziert worden ist. Die mÖ folgt nicht dem Prinzip des äquivalenten Tausches auf dem mehr oder wenigen freien Markt. Sie basiert vielmehr auf einem Verständnis von kollektiver Organisation der Ökonomie.« (2008, 98f) Auf theoretischer Ebene zeigt er, wie sich dabei Thompsons Konzept der »›mÖ‹ der Armen« mit Marx’ Kritik der kapitalistischen Ökonomie verbindet und diese ergänzt (Altvater 2005, 180).

Diesen größeren sozialgeschichtlichen und theoretischen Zusammenhang lassen diejenigen außer Acht, die Thompsons mÖ primär ideengeschichtlich interpretieren. Von diesen leisten einige jedoch substanziell weiterführende Beiträge zur Theoriegeschichte der normativ-institutionellen Dimension von mÖ, v.a. Norbert Götz (2015) mit einer umfassenden Begriffsgeschichte und Diskussion verschiedener analytischer Verwendungen des Terminus mÖ, Tim Rogan (2017) mit einer Rekonstruktion der Traditionslinie der Ideengeschichte der mÖ in der englischen Sozialgeschichtsschreibung und Gregory Claeys (1987) mit primär ideengeschichtlichen Arbeiten und Editionen zur mÖ bei Robert Owen und den Owenisten.

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m/moralische_oekonomie.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/05 23:17 von christian     Nach oben
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