Menschenbild
A: ṣūrat al-’insān. – E: conception of man. – F: conception de l’homme, image de l’homme. – R: oblik čeloveka. – S: concepción del hombre, imagen del hombre. – C: rén de xíngxiàng 人的形象
Jeff Noonan (ChW/MW) (I.), Fabio Angelelli u. Red. (II.), Christian Wille, Josef Held (III.)
HKWM 9/I, 2018, Spalten 505-525
I. – 1. Marx’ Kapitalismuskritik ist nicht von dem Argument zu trennen, dass der Kapitalismus die Potenzen der Menschen zur Selbstschöpfung behindert. Seine Auffassung des menschlichen Wesens, die sich v.a. in den philosophischen Werken bis 1845 (Judenfrage, KHR, Ms 44, DI, ThF) niedergeschlagen hat und ihren stärksten Ausdruck in dem »kategorischen Imperativ« findet, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (KHR, 1/385), kann als revolutionärer Humanismus bezeichnet werden. Die »erniedrigenden« Bedingungen sind solche, in denen die menschlichen Individuen sich von eben jenen Institutionen und Kräften beherrscht sehen, die sie in ihren praktischen Verhältnissen selbst hervorbringen. Daher zielt jede revolutionäre Tätigkeit auf die Aufhebung von Entfremdung: »Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst«, heißt es beim jungen Marx (Judenfrage, 1/370). »Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch […] Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ›forces propres‹ als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat […], erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.« (Ebd.) Dass die Verwirklichung der schöpferischen Fähigkeiten des Menschen behindert wird, begreift Marx als Effekt entfremdeter Arbeit, Revolutionen als Anläufe, die gesellschaftlichen (und nicht metaphysischen) Blockierungen eines freien und befriedigenden Lebens für jeden Einzelnen und alle zu sprengen.
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II. Kritik der politischen Ökonomie. – Im Unterschied zu den marxschen Frühschriften, die einen Bruch mit allen spekulativen Auffassungen vom menschlichen Wesen vollziehen, ist in den ökonomischen Arbeiten ab 1857 vom »Wesen des Menschen« kaum noch die Rede. Der in den Grundrissen sowie im Kapital fundamentale Begriff der gesellschaftlichen Produktion ist jedoch nicht nur Kern der Gesellschaftsanalyse, sondern zugleich Werkzeug für den Entwurf eines »neuen Menschenbegriffs« (Sève 1969/2016, 147). Er erlaubt, den Menschen als aktives, historisch-gesellschaftlich gewordenes und stets wandelbares Resultat seiner eigenen Tätigkeit zu fassen. Da »alle Produktion […] Aneignung der Natur von Seiten des Individuums innerhalb und vermittelst einer bestimmten Gesellschaftsform« ist (Einl 57, 42/23), ist ein außerhalb der Gesellschaft sich konstituierender Mensch »ein ebensolches Unding als Sprachentwicklung ohne zusammen lebende und zusammen sprechende Individuen« (20). Die »Untersuchung der gesellschaftlichen Verhältnisse tritt an die Stelle der Wesenszuweisungen« (Franziska Baumbach 2015, 149).
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III. Kritische Psychologie. – Der Anspruch der Kritischen Psychologie ist der einer wissenschaftlichen Neugründung der Psychologie. Die Analyse setzt mit der Rekonstruktion des Gegenstands ein, fragt nach der »im Gegenwärtigen liegenden Historizität« des Psychischen, um von hier aus ›Verkürzungen‹, »wegisolierte« Zusammenhänge, Verfehlen »zentraler Spezifizierungen«, falschen Kontext usw. aufzuweisen (Holzkamp 1983a, 51).
Das ›Mensch‹-Sprachmaterial ist in der »funktional-historischen« Analyse der Entwicklung des Psychischen (55) weitgehend von der ›Bild‹-Haftigkeit gereinigt und taucht in folgenden Zusammenhängen auf: erstens als Haupteinschnitt, auf den das »historische Herangehen« stößt, als »menschliche Qualität« oder »Ausprägungsform«, »menschlich-gesellschaftliches Spezifitätsniveau«, Evolution »zum Menschen hin«, Entwicklung des »Mensch-Welt-Zusammenhangs«; zweitens als – und dies ist wahrscheinlich einer der wichtigsten Begriffe, den die Kritische Psychologie, Marx folgend, aufgenommen hat – Frage nach der »gesellschaftlichen Natur des Menschen« (178ff, 186ff, 209ff u. 250ff). Hier geht es um die evolutionär entstandene, biologisch verankerte, den Dominanzwechsel zur gesellschaftlich-historischen Lebensgewinnung ermöglichende Potenz zur Vergesellschaftung.
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