Moral
A: al-’aḫlāq. – E: morals, morality. – F: le moral, la morale. – R: moral’. – S: moral. – C: dàodé 道德
Peter Jehle (I.), Jürgen Stahl (II.)
HKWM 9/II, 2024, Spalten 1353-1401
I. Das Moralische ist eine Dimension alles Sozialen und ist – im Unterschied zu bestimmten Moralen mit ihren spezifischen Vorschriften und Geboten – in den elementaren Notwendigkeiten der menschlichen Lebensgewinnung fundiert. Die »gegenseitige Abhängigkeit der Individuen, unter denen die Arbeit geteilt ist« (Marx/Engels, DI, 3/33), bringt als Richtschnur der Konfliktregulierung eine Reziprozitäts-M hervor, die im Sprichwort ihre die Zeiten überdauernde Formulierung gefunden hat: »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.« Hier ist ausgesprochen, dass die Fähigkeit zum Perspektivwechsel, Einsicht in den Standpunkt des Anderen, wechselseitiges Sich-in-die-Pflicht-Nehmen kulturelle Errungenschaften sind, die als gesellschaftliche Kohäsionsbedingungen hochgehalten werden und der bearbeitenden Aneignung bedürfen. Zuverlässigkeit und Selbstbeherrschung sind einem nicht in die Wiege gelegt. Sie sind für die arbeitsteilige Großwildjagd der Steinzeit ebenso grundlegend wie für das Team von Software-Entwicklern in einem ›Startup‹ des 21. Jh.
Freilich muss, wie Sigmund Freud sagt, die »konstitutionelle Neigung […] zur Aggression gegeneinander« (SA 9, 267) im Zaum gehalten werden, sobald sich die »Aufgabe des Zusammenlebens« stellt (258). Der »Kultur« gelinge dieses Kunststück, indem sie die »Aggressionslust des Individuums« durch die Aufrichtung einer »Instanz in seinem Inneren, wie durch eine Besatzung in der eroberten Stadt, überwachen lässt« (250). Diese Instanz, das stets vom »Schuldgefühl« begleitete »Gewissen«, an dem man zerbrechen kann, nennt er »Über-Ich« (252). Das »Ich« als Realitätsinstanz muss diesem Modell zufolge versuchen, die widersprüchlichen Anforderungen der beiden innerpsychischen Instanzen des »Es« (Triebmächte) und des »Über-Ich« (kulturelle Normenmacht) zu individueller Handlungsfähigkeit zu vermitteln.
Doch die normative Instanz der M ist »zweigeschlechtlich […] wie der Mensch« (F.Haug 1983, 659), sodass ›Tugend‹, ›Ehre‹, ›Schuld‹ für Männer etwas anderes bedeuten als für Frauen. Die Bedeutungen resultieren aus den Mehrdeutigkeiten, mit denen die Tugenden geschlagen sind, wo das von Klassen-, Geschlechter- und anderen Gegensätzen gespaltene Gemeinwesen durch übergeordnete Mächte zusammengehalten werden muss. Als von der Gesellschaft abgelöste, über ihr fixierte und ›von oben‹ die Individuen zur Pflicht rufende ›Werte‹ muss man die Tugenden zwingen, Farbe zu bekennen. Bertolt Brecht ist ein Meister darin. Was ist gut? Die Shen Te seines Guten Menschen von Sezuan muss sich regelmäßig in den bösen Vetter Shui Ta verwandeln, um nicht unter die Räder zu kommen. Der »gute Mensch« kann nur gut sein, wenn ihn sein rücksichtslos handelndes anderes Ich immer wieder heraushaut. »Weiß nicht, wie es kam: gut zu sein zu andern / Und zu mir konnte ich nicht zugleich.« (10. Bild; GW 4, 1603) Was ist menschlich? Brechts Ziffel, der als vor den Nazis Flüchtender sich behaupten muss, kann »keinem anraten, dass er sich ohne die allergrößte Vorsicht menschlich benimmt« (Flüchtlingsgespräche, VIII; GW 14, 1435). Er hat es satt, »tugendhaft zu sein, weil nichts klappt, entsagungsvoll, weil ein unnötiger Mangel herrscht, fleißig wie eine Biene, weil es an Organisation fehlt, tapfer, weil mein Regime mich in Kriege verwickelt« (XVII; 1497). Antagonistische Sozialstrukturen versehen das Wort ›gut‹ mit einem »hässlichen Beigeschmack«, wie Brecht Kalle sagen lässt (VIII; 1434).
Wenn man von der abstrakten Frage ›Was ist M?‹ zur Konkretion der Verhältnisse kommt, kann man die von Marx auf den Punkt gebrachte Erfahrung machen, dass es »kein Glück, sondern ein Pech« ist, »produktiver Arbeiter« zu sein (K I, 23/532), wo die Früchte des Fleißigseins, zu dem die arbeitenden Subjekte angehalten werden, sich bei den Produktionsmittelbesitzern sammeln. Die M steckt also auch in der Ökonomie, mithin in der Weise, wie Leben und Lebensmittel produziert werden und unter welche gesellschaftlichen Kategorien die beteiligten Subjekte dabei fallen. Gleichwohl sind in den Kämpfen für soziale Gerechtigkeit moralische Tugenden unverzichtbar.
Vor aller Ausarbeitung zu »religiösen und philosophischen Systemen und Katechismen« existiert ›M‹ im Alltagshandeln (Labriola, Drei Versuche, 147). Dies »ganz prosaisch […] in den Neigungen, in den Sitten und Gebräuchen, in den Ratschlägen, Urteilen und Wertungen der gewöhnlichen Sterblichen« (ebd.). Sie werden von den Instanzen der Herrschaftssicherung unablässig abgepflückt, in ideologische Moralform gebracht und als präskriptive ›Werte‹ der Gesellschaft übergeordnet. Eine der Grundaufgaben der Gesellschaftskritik ist es daher, das solchermaßen ideologisch Geformte – »bei Marx ist es das ›Gemeinwesen‹« (W.F.Haug 1987/1993, 154) – den Vergesellschaftungskompetenzen der Gesellschaftsmitglieder zurückzugewinnen. Damit kommt der geschichtsmaterialistische Kern in den Blick, um den es bei der M geht: das solidarisch-gesellschaftliche Handeln, in das immer eine moralische Komponente eingeht. In die Stimmen ›von unten‹ mischen sich unablässig die ›von oben‹ ein. Dabei hat ›M‹ keinen spezifischen Ort; Moralisierungsfunktionen verteilen sich, traditionell ansetzend in der patriarchalen Familie, auf alle ideologischen Instanzen.
II. Sozialistische M. – Wenngleich sozialistische M »auf neuem sozial-ökonomischen Boden erwächst«, so »fällt sie nicht vom Himmel«, noch »zerreißt« damit »das Band der kontinuierlichen Kulturentwicklung der Menschheit« (Seidel 1972, 6). In ihren bisherigen historischen Erscheinungsweisen ist sie wesentlich aus dem Anspruch erwachsen, dass sich die Arbeit unter sozialistischen Produktionsverhältnissen in nicht-entfremdeter Weise vollziehen soll. Infolge der unterstellten allgemeinen Kontrolle der Produktions- und Lebensbedingungen durch die Produzenten schien der Widerspruch individueller und gesellschaftlicher Interessen in seiner antagonistischen Form grundsätzlich aufgehoben; ihre konkrete Vermittlung sollte durch die moralische Anrufung zur bewussten Handlungsbereitschaft des Einzelnen gewährleistet werden.
Das Projekt, die eigenen Lebensumstände nicht-entfremdet zu gestalten, wurde mit großem Enthusiasmus und hoher Opferbereitschaft in den verschiedenen Transformationsprozessen – ob im Gefolge der russischen Oktoberrevolution, der Befreiungskämpfe in China, Kuba, Jugoslawien, Vietnam oder in den durch die Sowjetarmee vom Faschismus befreiten Ländern Osteuropas – in Angriff genommen. Getragen von historischem Optimismus, schlug sich das in der Verneinung überkommener und der Ausbildung neuer moralischer Werte und Normen nieder. Freilich wurde der von Lenin formulierte Anspruch, »die Mehrheit der Bevölkerung in Verhältnisse« zu versetzen, »die allen ohne Ausnahme gestatten werden, ›Staatsfunktionen‹ auszuüben« (SR, 1918, LW 25, 504), beständig konterkariert. Zugleich erhöhte sich der Druck auf die moralische Regulierung dadurch, dass der für die Arbeitsdisziplin im Kapitalismus vorrangige »stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse« (Marx, K I, 23/765) weitgehend entfiel.
In der DDR war der Aufruf »Plane mit, Arbeite mit, Regiere mit!« (ND, 21.9.1958) eine einladende, gewinnende Losung, die ihre mobilisierende Kraft in dem Maße verlor, wie die Masse der Menschen in eine subalterne Stellung gegenüber dem administrativen Apparat verbannt wurde. Kampagnen als Form der Motivation wurden statt Ausnahme zur Normalform und führten zu subversiven Haltungen und Pseudoaktivismus. Das bleibende emanzipatorische Projekt besteht darin, am Mitplanen, Mitarbeiten und Mitregieren festzuhalten und stets neue Formen dafür zu finden.
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