Geschlecht
A: al-ǧins. – E: gender. – F: sexe. – R: pol, gènder. – S: sexo, género. – C: xingbie 性别
Donna Haraway (I.), Andrea Maihofer (II.)
HKWM 5, 2001, Spalten 470-488
I. G findet sich auf der umstrittenen Grenzlinie zwischen Natürlichem und Gesellschaftlichem, im Spannungsfeld von Herrschaft und Unterdrückung. Als umstrittener theoretischer Begriff erscheint G erst im Kontext der feministischen Bewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Marx und Engels bieten entscheidende Denkmittel, aber auch Hindernisse für die spätere Politisierung und theoretische Ausarbeitung dieses Begriffs. In seiner allgemeinen gesellschaftlichen Bedeutung ist G im traditionellen Marxismus durchaus ein Thema. Im Sinn einer spezifischen Konstituierung von Frauen im Verhältnis zu Männern als Gruppe und von Frau zu Mann als dem Subjekt (westlicher) Geschichte aber unterhält der feministische G-Begriff ein gespanntes Verhältnis zu marxistischen Ansätzen. Moderne feministische Deutungen von G beginnen mit Simone de Beauvoirs (…) These, dass man »nicht als Frau geboren wird«. Die gesellschaftlichen Bedingungen der Nachkriegszeit förderten das Nachdenken über G, weil sie die Vorstellung nahelegten, Frauen seien ein werdendes kollektives Subjekt in der Geschichte. Feministische Theorie und Praxis um G will im Kampf gegen die Naturalisierung von Geschlechtsdifferenz deren geschichtliche Systeme begreifen, durch welche Männer und Frauen sozial konstituiert und in hierarchischen und antagonistischen Verhältnissen positioniert sind. Feministische Theorien stimmen darin überein, dass jedes kohärente Subjekt eine Phantasiegestalt ist und dass persönliche und kollektive Identität prekär und fortwährend sozial konstituiert sind (Coward 1983). Die Auseinandersetzung über die Akteure und Begriffe dieser Konstitutionsprozesse bildet den Kern feministischer G-Politik.
II. Paradigmatisch für (de)konstruktivistische Konzeptionen formulieren Ulrike Teubner und Angelika Wetterer, »dass wir es bei der G-Zugehörigkeit von Personen und bei der Zweigeschlechtlichkeit als sozialem Klassifikations- und Differenzierungsprinzip nicht mit einer Vorgabe der Natur, sondern mit dem Ergebnis sozialer Konstruktionsprozesse zu tun haben« (…). Was mit »sozialer Konstruktion« von G genau gemeint ist, differiert in den einzelnen Theorien, nicht zuletzt deshalb, weil die Konstruktionsprozesse von G jeweils in sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen untersucht werden – mal liegt der Fokus mehr auf sozialen Interaktionen, mal mehr auf strukturellen oder institutionellen Prozessen und wieder ein anderes Mal mehr auf der diskursiven Konstituierung von G in literarischen Texten oder normativen Diskursen. Insgesamt erweitert sich aber mit dieser Einsicht der Rahmen der Fragestellungen immens: alle Aspekte von Gesellschaft (soziale Situationen, gesellschaftliche Strukturen, Institutionen, Architektur, Wissensformen, Subjektivität etc.) kommen nun als (mögliche) Momente der gesellschaftlichen Konstruktion und Organisation von G, als vergeschlechtlichte und vergeschlechtlichende Elemente des »Geschlechterarrangements« (…) in den Blick. Damit eng verbunden, findet in fast allen diesen Positionen eine Verschiebung der Frauen- zur G-Forschung statt. So konzentrierte sich die herkömmliche Frauenforschung auf den Nachweis der verschiedenen Facetten der Nichtwahrnehmung des Lebens und Handelns von Frauen und deren Diskriminierung in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Demgegenüber ist der Ausgangspunkt der G-Forschung die Infragestellung überhaupt von G. Problematisiert wird nun – gleichsam einen Schritt davor –, warum Individuen überhaupt zu ›Frauen‹ und ›Männern‹ werden müssen und was es bedeutet, dass sich viele Gesellschaften zentral über G organisieren. Geklärt werden soll, wie sich die symbolische Ordnung der heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit in verschiedenen sozialen Prozessen (re)produziert und welche Folgen das für die gesellschaftliche Organisation, die Sprache, die Architektur, die Wissenschaft, das Denken und nicht zuletzt für die Individuen (und deren emotionale, psychische, kognitive und körperliche Entwicklung) hat.
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