Gestalt
A: aš-šakl. – E: form, shape. – F: forme, figure. – R: obraz, figura, forma. – S: forma, figura. – C: xingtai 形态
Michael Franz
HKWM 5, 2001, Spalten 649-659
G wird häufig ähnlich oder synonym mit ›Form‹ verwendet; was sie vom abstrakteren Schwesterbegriff abhebt, ist der Akzent auf sinnlicher Präsenz und Prägnanz. G ist daher ein ästhetischer Grundbegriff, der auch in unterschiedlichen Konzeptionen einer marxistisch orientierten Ästhetik (bes. in kritisch produktiver Anknüpfung an den Bauhausfunktionalismus) thematisiert worden ist. Seine Wurzeln reichen in die Antike zurück. Als G-Begriffe im 5. Jh.v.Chr. Eingang in die entstehende philosophische Terminologie fanden, war ihre Domäne die ontologische Prinzipienlehre. Erst im Hellenismus (3.-1. Jh. v.Chr.) hat sich die Ästhetik (vermittelt über stoische Axiologie und epikureische Poetologie) aus der Ontologie herausgelöst. G blieb in ihrer Kernbedeutung ein philosophischer Begriff, auch als sich im 19. Jh. eine Vielfalt einzelwissenschaftlicher (biologischer, geologischer, kunsttheoretischer, wahrnehmungspsychologischer) G-Begriffe etablierte. Die philosophische Problematik betraf v.a. das Verhältnis von Teil und Ganzem; so war die Entwicklung der G-Psychologie mit philosophischen Debatten zwischen konservativer Ganzheitsmetaphysik und logischem Empirismus über den Satz »Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile« verknüpft. Auch der sozialprogrammatische Bauhausfunktionalismus, der eine neue Basisästhetik der Gestaltung begründet hat, musste sich abgrenzen von klassizistischen Hegemoniemustern, kulturmorphologischen Grundvorstellungen und v.a. von gestalt- und ganzheitstheoretischen Ansätzen im Geiste einer konservativen »Revolution der G« (Ernst Jünger). Daher wurde hier auch keine Mystifikation von Ganzheit betrieben; vielmehr wurden nichtklassische Ganzheitskonzepte entworfen, in denen die Koordination der Teile ihre Subordination übergreift. Dem kam der Einspruch des Wiener Kreises gegen den abstrakten Dualismus von Summe (bzw. Aggregat) und Ganzheit entgegen.
Gegenüber der Tendenz der in den 1990er Jahren vorherrschenden Ästhetik, die ästhetische Praxis auf Aisthesis (Wahrnehmung) zu reduzieren, fällt ins Gewicht, dass die marxistisch orientierte Ästhetik an G nicht nur als Wahrnehmungsphänomen, sondern als Produktionsphänomen interessiert ist. Dies ist um so bedeutsamer, als die Designtheorie der 1990er Jahre von der These vom Verschwinden der Dinge beherrscht wurde, der zufolge die reale Objektwelt zunehmend von einer virtuellen Realität überlagert wird (Staebe 1998).
Der G-Begriff (μορψή) entwickelte sich in der griechischen Antike aus der ontologischen Grundopposition des Markierten und des Markierungslosen (πέρας/ἄπειρον) und schloss Bestimmungen ein wie Größe (μέγεθος), Maß (μέτρον), Form (εἷδος) und Ordnung (τάξις). Generell ist der griechische G-Begriff durch eine große Spannweite charakterisiert; er ist eng mit dem Begriff des Körpers verbunden, dessen Geltungsbereich sich vom Atom über makrophysikalische Objektkörper bis zu komplexeren Gefügen wie dem menschlichen Körper erstreckt. Durch die Begriffe τέχνη und ποίησις wurde eine Verbindung zwischen den Formbildungsprozessen in der Natur und der gestaltenden Tätigkeit der Menschen hergestellt, die vermögend sind, Neues in die Welt zu setzen, das vorher nicht da war (Platon). Die Techne ist nicht nur Mimesis der Produktivität der Natur, sondern vermag herzustellen, was die Natur nicht hervorzubringen vermag (Aristoteles).
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