Menschheit
A: al-’insānīya. – E: humanity. – F: humanité. – R: čelovečestvo. – S: humanidad. – C: rénlèi 人类
Wolfram Adolphi, Victor Strazzeri
HKWM 9/I, 2018, Spalten 580-592
Die ›M‹ ist kein Gegebenes, sondern eine Aufgabe. Ihre »Vorgeschichte« schließt nach Marx erst ab, wo die »materiellen Bedingungen« geschaffen werden, unter denen die »antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses« überwindbar wird (Vorw 59, 13/9). In diesem Sinn ist die M ein Angefangenes auf dem Rücken des Kapitalismus, der sie, mit seinen nunmehr weltumspannenden Kommunikations- und Produktionstechnologien, fortwährend anbahnt und durchkreuzt. Die »M als Spezies«, schreibt Walter Benjamin 1928, und diese Spezies im Unterschied zu den »Menschen als Spezies«, die »seit Jahrzehntausenden am Ende ihrer Entwicklung« sind, steht erst »an deren Anfang« (Zum Planetarium, GS IV.1, 147). Dass die M sich als Subjekt zusammennimmt, entsprechend im wohlverstandenen Gattungsinteresse handelt und die Erde in eine »Heimat« verwandelt, ist eine Utopie, worin »noch niemand war« (Bloch, PH, 1628). Allerdings begegnet der Begriff der M frühzeitig als imaginierte Einheit, tritt auf als politisch-ethisches Postulat, als Deklarativum und beschwörende Anrufung, und unterliegt daher auch der antagonistischen Reklamation.
Die Entwicklung zum Menschen, dessen konkret-historisches Wesen im »ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« residiert (Marx, ThF, 3/6), setzt eine »gesellschaftliche Natur« bzw. »biologische Entwicklungspotenzen zur Gesellschaftlichkeit« voraus (Holzkamp 1983, 180). Sie bilden sich im Tier-Mensch-Übergangsfeld heraus. Die Fähigkeit zum Produzieren erfordert eine spezifische körperliche Organisation der Menschen, die schon Engels auf der Grundlage der damaligen Primatologie und Anthropologie v.a. am »aufrechten Gang« (Differenzierung der Hand vom Fuß, Bipedie) und an der dadurch ermöglichten Entwicklung der artikulierten Sprache und der Ausbildung des Gehirns festmacht (DN, 20/322; vgl. 444f). Ausgangspunkt war der durch das klimatisch erzwungene Zurücktreten der Waldgebiete bedingte Übergang vom Regenwald-Biotop zum Steppen-Biotop, durch den ein Teil der Primaten »durch Selektionsdruck in die evolutionäre Progression zum Menschen hin gedrängt wurde« (Holzkamp 1983, 164).
Der qualitative Sprung, der die eigentliche Menschwerdung einleitete, war – von Benjamin Franklin mit seiner Definition des Menschen als »toolmaking animal« umschrieben (vgl. K I, 23/194) – der Übergang von der Mittelbenutzung und Mittelherrichtung zur Werkzeugproduktion (Holzkamp 1983, 162f, 172 u. 176ff), die wiederum mit der Ausbildung gattungsspezifischer Fähigkeiten zur sprachlichen Kommunikation, Vorwegnahme künftiger Ereignisse und zu entsprechenden Lern- und Planungsprozessen verbunden war. Die »Produktion des materiellen Lebens« gilt Marx und Engels als »erste geschichtliche Tat«, die freilich auch »noch heute, wie vor Jahrtausenden, täglich und stündlich erfüllt werden muss, um die Menschen nur am Leben zu erhalten« (DI, 3/28). Was gemeinhin als ›Geschichte der M‹ bezeichnet wird, müsse daher »stets im Zusammenhange mit der Geschichte der Industrie und des Austausches studiert und bearbeitet werden« (30).
Die mit dem Begriff der M gegebene Totalisierung, die qua abstrahierender Synthese aus vielem Eins macht, ist nicht mit dem Zustand zu verwechseln, in dem die, wie Antonio Gramsci sagt, »geschichtlich vereinte menschliche Gattung wirklich ist«, denn der »Vereinigungsprozess« erfolgt erst »mit dem Verschwinden der inneren Widersprüche, welche die menschliche Gesellschaft zerreißen«; diese Widersprüche bilden den Nährboden für die »Entstehung der Ideologien«, die »nicht konkret universell sind, sondern durch den praktischen Ursprung ihrer Substanz unmittelbar hinfällig gemacht werden« (Gef, H. 11, §17, 1411f). Aber was »die Idealisten ›Geist‹ nennen, ist nicht Ausgangspunkt, sondern Ankunftspunkt, das Ensemble der Superstrukturen im Werden, hin zur konkreten und objektiv universellen Vereinigung, und nicht etwa eine einheitliche Voraussetzung« (1412). Bisher leistete diese Vereinigung, die keinen gedanklichen, sondern einen praktischen Prozess beschreibt, am ehesten die »Experimentalwissenschaft« (ebd.). Es ist ihr »Terrain, auf dem eine solche kulturelle Einheit das Maximum an Ausdehnung erreicht hat« (ebd.). Naturwissenschaft und Technik repräsentieren vorerst »die am meisten objektivierte und konkret universalisierte Subjektivität« – und nicht die Gesellschaftswissenschaft (ebd.).
Die von der NASA 1977 mit interstellaren Raumsonden (Voyager 1 u. 2) ins All geschickten Voyager Golden Records, zwei vergoldete Datenplatten, die neben verschiedensprachigen Grußbotschaften auch Beispiele der Wissenschaften, Musik und Bilder überliefern, sollen möglichem außerirdischen Leben Kunde von der M geben. Man tue diesen Schritt, um nach »Frieden und Freundschaft« zu suchen und »unser Wissen« zu teilen, heißt es in der mitgesendeten Botschaft des UN-Generalsekretärs Kurt Waldheim, die er »im Namen der Menschen unseres Planeten« spricht (zit.n. Sagan 1978/1980, 34). Die Vereinten Nationen, auf die Waldheim sich beruft, haben ihre Vereinigung noch vor sich. Aber eine andere Zukunft als jene Einheit, in der die Unterschiede ihren Frieden finden, gibt es nicht. Daher Picassos Bild, das die Bände dieses Wörterbuchs ziert und jene der Verzweiflung sich abringende kämpferische Zuversicht atmet, die im Solidaritätslied von Brecht und Eisler verdichtet ist: »Schwarzer, Weißer, Brauner, Gelber! / Endet ihre Schlächterein! / Reden erst die Völker selber / Werden sie schnell einig sein.« (Brecht, GA 14, 119)
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