Milieu, soziales
A: bī’a iǧtimāʽīya. – E: social milieu. – F: milieu social. – R: social’naja sreda. – S: entorno social. – C: shèhuì fēnwéi 社会氛围
Michael Vester
HKWM 9/I, 2018, Spalten 890-910
In Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften wird der Begriff des sozialen oder gesellschaftlichen M verwendet, um Gruppen zu bezeichnen, die sich – aufgrund ähnlicher äußerer Lagen und innerer Haltungen – durch Zusammenhalt nach innen (Kohäsion) und Abgrenzung nach außen (Distinktion) auszeichnen. Das sM bildet ein Vermittlungsglied zwischen sozioökonomischen Verhältnissen und relativer Eigenständigkeit der Alltagskulturen, Sozialisation, Vergemeinschaftungen und politischen Äußerungsformen der verschiedenen Klassen und Klassenfraktionen, das in den vorherrschenden Klassen- und auch Schichtungstheorien fehlt.
In Marx’ Begriffsapparat sind diese Erscheinungsformen – v.a. im Feuerbachkapitel der DI (3/17-77) und im 18.B – in beschreibenden Kategorien (wie z.B. Sitten, persönliche Entwicklung, Gemeinde, Bande, Parteien, politischer Kampf) durchaus vorhanden, aber noch nicht theoretisch ausgearbeitet. Eine solche Ausarbeitung findet sich zuerst bei Émile Durkheim und Antonio Gramsci, auch wenn bei letzterem fragmentarisch und mit dem Wort ambiente bezeichnet, das das ital. Äquivalent des frz. Worts milieu ist und als »Umfeld« auch die von Marx in ThF 3 angesprochenen »Umstände« umfasst. Indem Durkheim und Gramsci den Begriff in den Zusammenhang einer praxeologischen Klassentheorie stellen, vollziehen sie (nach Marx) als erste den Bruch mit dem mechanistischen Milieukonzept und tragen der Dialektik von äußeren Bedingungen und relativ eigenständiger Praxis Rechnung.
Dass die hier zu rekonstruierenden Ansätze eines praxeologischen Konzepts der Klassenmilieus bei Marx, Durkheim und Gramsci bisher kaum aufgearbeitet worden sind, ist selbst eine Folge der Kampffronten im wissenschaftlichen und im politischen Feld. Die spätere systematische Entwicklung einer praxeologischen Klassentheorie war nur von Positionen zwischen den hegemonialen Lagern aus möglich, wie sie Theodor Geiger, Edward P. Thompson und Pierre Bourdieu einnahmen. Aber auch sie haben diese Ansätze von Neuem entwickeln müssen und sich nur lückenhaft und begrenzt auf die bei Marx, Durkheim und Gramsci gelegten Grundlagen bezogen.
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