Martianismus

A: maḏhab mārtī. – E: Martianism. – F: martianisme. – R: martianizm. – S: martianismo. – C: Mǎdì zhǔyì 马蒂主义

Peter Jehle (I.), Francisca López Civeira, Olivia Miranda (PJ) (II.)

HKWM 8/II, 2015, Spalten 1833-1843

I. Als die Richter den Angeklagten Fidel Castro fragten, wer der Rädelsführer des Aufstands vom 26. Juli 1953 sei, antwortete er: »Es ist José Martí.« (Fernández Retamar 1965, 1) Als 40 Jahre später Hugo Chávez seine erste Reise nach Kuba machte und, noch nicht Staatschef Venezuelas, erstmals mit dem kubanischen ›Comandante en Jefe‹ zusammentraf – im Jahr 1994 in der als »período especial« bezeichneten Krise, in die der Zusammenbruch der SU das rohstoffarme Kuba gestürzt hatte –, sagte Castro: »Man mag es so oder so nennen. Wir, wie man weiß, nennen es Sozialismus. Aber wenn ihr mir sagt, das sei Bolivarianismus, dann sage ich: Sehr einverstanden! Wenn ihr mir sagt, das sei Martianismus, dann sage ich: Einverstanden. Außerdem, wenn ihr mir sagt, das sei Christentum, dann sage ich: Ich bin ganz und gar einverstanden!« Chávez zitiert dies in den Gesprächen, die Ignacio Ramonet mit ihm geführt hat (2013, 670). Die Vordenker des »Antiimperialismus dieser Epoche«, fährt Castro fort, seien »Bolívar und Martí« (zit.n. Elizalde/Báez 2005, 140).

Als Schriftsteller, Dichter und Revolutionär, Verfasser der antikolonialen Programmschrift Nuestra América (1891), wurde Martí zum Ideengeber und maßgebenden Organisator des 1895 beginnenden zweiten Unabhängigkeitskrieges. »Uns fehlt […] die Seele des Aufstands«, notiert Máximo Gómez, General der Befreiungsarmee, in seinem Tagebuch, nachdem Martí 1895 den Tod im Kampf gegen die spanische Kolonialmacht gefunden hatte (1968, 285). Diese »Seele« verkörperte er wie kein anderer, so dass Castro von sich sagen konnte: »Natürlich war ich zuerst Martianer und dann Martianer, Marxist und Leninist.« (2006, 54) Den Glutkern der kubanischen Revolution bildeten die nicht von Marx oder Lenin, sondern von Martí am überzeugendsten verkörperten Ideen sozialer Gerechtigkeit, multi-ethnischer Harmonie und nationaler Selbstbestimmung.

»Denken heißt dienen [Pensar es servir]«, schreibt Martí (NA, 162; UA, 66). Man hat dies mit Antonio Gramsci als Hinweis auf eine »Philosophie der Praxis« verstanden: »denken heißt den anderen nützlich sein, […] für eine gerechtere Gesellschaft […] kämpfen« (Ortiz 1993, 79). Auch der Gedanke, dass »Schützengräben aus Ideen denen aus Stein überlegen sind« (NA, 151; UA, 56), macht Martí zu einem Vorläufer Gramscis, der die zur Hegemonietheorie hinführende Frage verfolgte, was »sich von seiten einer erneuernden Klasse diesem phantastischen Komplex von Schützengräben und Befestigungen der herrschenden Klasse entgegensetzen [lässt]« (Gef, H. 3, §49, 374). Ob man »bereit ist oder nicht, mit den Armen dieser Erde sein Los zu teilen« – con los pobres de la tierra / quiero yo mi suerte echar, heißt es in einem Gedicht Martís (1891, Versos sencillos, III) –, ist »das Kriterium schlechthin für die Unterscheidung der ethischen Qualität eines Menschen, aber auch einer wissenschaftlichen Theorie« (Fornet-Betancourt 2007, 46).

II. Julio Antonio Mella, Mitbegründer der kubanischen KP 1925, ermordet im mexikanischen Exil 1929, dringt 1926 darauf, dass jemand aus der »von Vorurteilen freien und mit der revolutionären Klasse von heute verbundenen Generation« ein Buch über Martí schreibe (1975, 267). Gesucht ist ein »ernsthafter, von den Interessen der kubanischen Bourgeoisie unabhängiger Kritiker […], der die geschichtlichen Tatsachen und ihre Bedeutung für die Zukunft zu bewerten versteht« (268). Erstmals wird dazu aufgefordert, Martís Denken und Handeln vom Standpunkt der in ›halbkolonialer‹ Abhängigkeit lebenden Völker zu aktualisieren, der diesem Lebenswerk den Sinn einer »nationalen Befreiung vom ausländischen Joch des Imperialismus« verleiht (272).

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m/martianismus.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/11 12:30 von christian     Nach oben
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