Bourgeoisie
A: būrdjūwāzīya. – E: bourgeoisie, middle classes. – F: bourgeoisie. – R: buržuazija. – S: burgesía. – C: zichan jieji
Florian Schmaltz (I.), Immanuel (MH) Wallerstein (II.)
HKWM 2, 1995, Spalten 302-330
I. Max Stirner wird in der DI dafür kritisiert, daß er »nach Belieben« das »deutsche Wort ›Bürger‹ […] als ›citoyen‹ oder ›bourgeois‹« auslegt (…). Zwar leitet sich das Wort etymologisch aus den gleichen Quellen her wie »Bourgeoisie« (Canard 1913; Riedel 1972), doch haben seine Konnotationen sich anders entwickelt. Marx übernimmt oftmals die französischen Begriffe oder spricht bewußt differenzierend vom »politischen Bürger« als dem »Staatsbürger« (…). Die Übersetzung von »Citoyen« mit »Staatsbürger«, die 1789 in Wielands Teutschem Merkur auftaucht (vgl. Feldmann 1904/5), stellt jedoch eine Hilfskonstruktion dar. Der deutsche »Bürger« oszilliert zwischen dem »Bourgeois« – als einer aufs Ökonomische gerichteten Statusbezeichnung – und dem im wesentlichen politisch und rechtlich definierten »Citoyen«. »Bürgertum« ist in diesem Sinne semantisch umfassender als B und zur Bezeichnung einer durch ökonomische Interessen und Positionen definierten Klasse weniger geeignet. »Bürger« z.B. einer Republik, d.h. Staatsbürger, können auch Proletarier sein, soweit sie mit entsprechenden Rechten ausgestattet sind. In der Französischen Revolution hat sich der Ausdruck »Bourgeois« vom Rechtsterminus zur Klassenbezeichnung gewandelt und eine pejorative Konnotation erhalten (Meschke 1952; Militz 1979).
Im Englischen stellt sich das Übersetzungsproblem umgekehrt dar. Dem citoyen entspricht der citizen; anstelle von »B« wird aber zumeist die Bezeichnung middle classes gebraucht. Engels regt im Vorwort seiner Studie über die Lage der englischen Arbeiterklasse eine Sprachregelung an, die »das Wort Mittelklasse fortwährend im Sinne des englischen middle-class (oder wie fast immer gesagt wird: middle-classes) gebraucht […], wo es gleich dem französischen bourgeoisie die besitzende Klasse, speziell die von der sogenannten Aristokratie unterschiedene besitzende Klasse bedeutet« (…). Die Herausgeber von MEW 4 merken deshalb an, das »von Marx und Engels in ihren englisch geschriebenen Arbeiten häufig gebrauchte Wort middle-classes« sei »in fast allen Fällen mit B übersetzt« (…). In den philosophischen Frühwerken von Marx hat der Begriff »Bourgeois(ie)« seinen Ort in der Auseinandersetzung mit Hegels Begriff der bürgerlichen Gesellschaft (v.a. RPh). Sie führt zu der Frage, in welcher Beziehung – angesichts der Trennung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft – bourgeois, citoyen und homme zueinander stehen.
II. Der eigentliche Protagonist in den Mythen und Legenden der modernen Welt ist der Bourgeois. Für manche war er der Held, für andere der Schurke, für die meisten aber eine inspirierende oder verlockende Gestalt. Er hat die Gegenwart geprägt und die Vergangenheit zerstört. Der Ausdruck »Bourgeois« taucht im Jahre 1007 in Gestalt des lat. burgensis auf und wurde vom Französischen um 1100 als burgeis übernommen; er bezeichnete den Einwohner eines bourg, d.h. eines städtischen Areals, dessen Einwohner als ›frei‹ galten (Matore 1975): frei von den Verpflichtungen, die das soziale Bindemittel und den wirtschaftlichen Zusammenhang des Feudalsystems bildeten. Der Bourgeois war weder Bauer noch Leibeigener, aber er gehörte auch nicht zum Adel. So war der Bourgeois von Anbeginn eine anomale und zweideutige Erscheinung. Die Anomalität bestand darin, daß es in der hierarchischen Struktur und dem Wertsystem des Feudalismus für den Bourgeois keinen logischen Ort gab. Er stand außerhalb der klassischen drei Ordnungen, die sich selbst gerade zu dem Zeitpunkt herauskristallisiert hatten, als der Begriff des Bourgeois das Licht der Welt erblickte (vgl. Duby 1984). Und die Zweideutigkeit bestand darin, daß der Ausdruck »Bourgeois« (wie auch heute noch) zugleich ein Kompliment und einen Vorwurf darstellte. Man sagt, daß Ludwig XI. stolz auf den Ehrentitel »bourgeois de Berne« (Bürger von Bern) gewesen sei (Canard 1913). Aber Molière schrieb eine schneidende Satire mit dem Titel Le bourgeois gentilhomme (1671), und von Flaubert stammt der Satz: »Bourgeois nenne ich alle, die niedrig denken.« (Zit.n. Forster 1978) […]
Wie der Begriff »B« eine mittlere Schicht zwischen dem Adligen/Landbesitzer und dem Bauern/Handwerker bezeichnete, so wurde das bourgeoise Zeitalter (oder die »bürgerliche Gesellschaft«) aus zwei Perspektiven heraus definiert: in bezug auf die Vergangenheit als Fortschritt gegenüber dem Feudalismus, und in bezug auf die Zukunft als Gegensatz zur Verheißung (oder Drohung) des Sozialismus. Diese Definition war eine für das 19. Jh. typische Erscheinung, sah es sich doch selbst als das Jahrhundert des Triumphes der B, als Quintessenz der historischen Entwicklung des Bourgeois, als sein Inbegriff und seine Wirklichkeit. Diese Sichtweise wird noch heute von den meisten Menschen geteilt.
So ist die Wirklichkeit des Bourgeois, in ihrer kulturellen wie politisch-ökonomischen Dimension, durch die drei großen ideologischen Strömungen des 19. Jh. – Konservativismus, Liberalismus, Marxismus – auf bemerkenswert ähnliche Weise beschrieben worden. Das betrifft seine berufliche Funktion (in früheren Zeiten ist er für gewöhnlich ein Kaufmann, später aber ist er Besitzer von Produktionsmitteln und beschäftigt Lohnarbeiter, die vorweigend Güter produzieren), seine ökonomischen Motive (Profitmaximierung, Kapitalakkumulation) und sein kulturelles Profil (er ist vorsichtig, rational, verfolgt seine eigenen Interessen). Labrousse stellt jedoch eine allgemeingültige Definition in Frage: »Den Bourgeois definieren? Wir werden uns niemals einigen können« (1955), und er mahnt dazu, die empirische Wirklichkeit aus der Nähe zu betrachten und das Netz so weit wie möglich auszuspannen. Doch hat die gelehrte Welt, allem Eindruch nach, den ihr hingeworfenen Fehdehandschuh nicht aufgenommen.
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