kategorischer Imperativ

A: wāǧib qaṭ‛i. – E: categorical imperative. – F: impératif catégorique. – R: kategoričeskij imperativ. – S: imperativo categórico. – C: dingyan mingling 定言命令

Giorgos Sagriotis

HKWM 7/I, 2008, Spalten 487-495

»Moral, das ist, wenn man moralisch ist« – mit dieser Tautologie verdeutlicht Georg Büchner im Woyzeck (1. Szene) die Funktion des Moralisierens, Klassenherrschaft zu verschleiern. Im kI als Kurzformel des kantschen Rigorismus wird solche Selbstbezüglichkeit der moralischen Forderung zum Maßstab ethischen und dann politischen Richtens und Handelns. Anfänglich gegen die Theologie und die Ständeordnung des Ancien Régime gerichtet, büßt der kI sein ursprünglich kritisches Potenzial ein, wenn das Kriterium der Verallgemeinerbarkeit individueller Maximen als Bedingungslosigkeit und Autarkie der Moral ausgelegt wird. Doch setzt die Strenge der kantschen Formel eine Metaphorik in Bewegung, in der sich das Kategorische als Unnachgiebigkeit kritischer und emanzipatorischer Forderungen artikulieren kann. Dieser Dimension verleiht Marx eine kräftige Sprache, wenn er den kI dahingehend bestimmt, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (KHR). Die negative Fassung seines kI ergänzt er durch die dem kantschen kI ebenso verwandte positive Forderung, für Verhältnisse einzutreten, in denen »die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« (Manifest). Dieser Zusammenhang von negativer und positiver Forderung geht verloren, wenn Kants Moralphilosophie von neukantianisch orientierten Sozialdemokraten zur Begründung des Sozialismus und Bestimmung seiner politischen Strategie und Zielsetzung aufgenommen wird. Spätere Bemühungen, u.a. von Antonio Gramsci, Bertolt Brecht, Walter Benjamin, Ernst Bloch und Theodor W. Adorno, den kI für den Marxismus zurückzugewinnen, eröffnen dagegen ein weites Feld radikaler Politisierungsmöglichkeiten des moralischen Impulses. Nach Adorno verlangt die geschichtliche Erfahrung des 20. Jh. danach, dem kI einen konkret-geschichtlichen Gehalt zu geben, auch wenn ein solches Verfahren »widerspenstig gegen seine Begründung« wäre: »Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kI aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.« (ND)

Aufklärung, Ausbeutung, Austromarxismus, Befreiung, Brecht-Linie, Egoismus, Emanzipation, Entfremdung, Ethik, Ethik im Sozialismus, ethischer Sozialismus, ethisch-politisch, Freiheit, Gefängnishefte, Gemeinschaft, Gerechtigkeit, Hegemonie, Herrschaft, Hoffnung, Ideal, Ideologiekritik, Kantianismus, Klassenherrschaft, klassenlose Gesellschaft, klassische deutsche Philosophie, Legalität/Legitimität, Liberalismus, Mitleid, Moral, Neukantianismus, Recht, Revisionismus, Sozialismus, Unterdrückung, Vernunft

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