Konservatismus
A: muḥafaẓah. – E: conservatism. – F: conservatisme. – R: konservatizm. – S: conservadurismo. – C: baoshouzhuyi 保守主义
Kurt Lenk (I.), Ludwig Elm, Wolfgang Küttler (II.)
HKWM 7/II, 2010, Spalten 1589-1614
I. Der Bedeutungskern der politik- und geschichtswissenschaftlichen Kategorie »K« geht auf lat. conservare (bewahren, erhalten) zurück. Die grammatikalisch korrektere Version Konservativismus ist im politischen Alltag wie in der Wissenschaftssprache hinter der Kurzfassung K zurückgetreten. K bezieht sich auf ein Ensemble von Haltungen und Denkweisen, das auf die Dynamik gesellschaftlichen Fortschritts mit der Absicht der Stabilisierung und Verteidigung althergebrachter Institutionen und ›Werte‹ reagiert. Dabei ist der dem Erhalt der bewährten Traditionen verpflichtete K aufgrund der laufenden Veränderung der sozioökonomischen Verhältnisse und der ihn tragenden Repräsentanten (Klerus, Aristokratie und Bürgertum) einschneidenden Positionswechseln unterworfen, die eine periodische Neubestimmung konservativer Programmatik nötig machen.
Konservative Gruppierungen mit theoretisch artikulierten Positionen existieren seit der zweiten Hälfte des 18. Jh. Drei Ansätze lassen sich unterscheiden: Erstens gilt K als Ideologie einer historisch einmaligen Bewegung aristokratischer Schichten gegen die im Gefolge der Industrialisierung in Gang gekommene Emanzipation der bürgerlichen Klassen. Die Wendung feudaler, vorwiegend agrarisch bestimmter Stände gegen die Französische Revolution und die von ihr ausgehende Bedrohung gilt hiernach als Symptom einer konservativen Rechtfertigungs- und Restaurationsideologie. Als eine Form adligen Selbstverständnisses wird sie zu einem einmaligen, unwiederholbaren Epochenphänomen. Wie Liberalismus und Bürgertum, Sozialismus und Proletariat gehören K und Aristokratie zusammen. Zweitens: Eine universalistische Interpretation fasst K hingegen als eine wiederkehrende, ewig-menschliche Haltung. Sekundärtugenden und absolut gesetzte ›Werte‹ wie Disziplin und Gehorsam werden für einen solchermaßen zeit- und geschichtsübergreifenden K reklamiert, zu dem sich grundsätzlich jeder, ungeachtet seiner sozialen Stellung oder Herkunft, bekennen könne. Der dritte Ansatz geht von der Beobachtung aus, dass konservatives Verhalten in der Regel aktualisiert wird, sobald tradierte soziale Strukturen und Normen in Auflösung geraten. Damit ist K an historische Prozesse geknüpft: Immer dann, wenn gesellschaftliche Krisensituationen auftreten, werden konservative Topoi artikuliert, keineswegs bloß von jenen, die als Privilegierte unmittelbar an der Fortexistenz bestehender Strukturen interessiert sein müssen, sondern auch von Teilen der subalternen Klassen, die sich mit der herrschenden Ordnung identifizieren. Hieraus folgt, dass konservative Strömungen in verschiedensten Formationen immer dann auftreten, wenn der Konsens brüchig wird. K kann daher als Indiz für ein krisenhaftes Bewusstsein von Veränderungen im zwischenmenschlichen Verhalten oder in den sozioökonomischen wie politischen Strukturen gelten.
II. Für den K ist bei aller geschichtlichen und regionalen Verschiedenheit seiner mehr als zwei Jahrhunderte umfassenden Erscheinungsformen die Gegnerschaft zur Gleichheit aller Menschen konstitutiv. In partieller Überschneidung mit ›Reaktion‹, ›Restauration‹ wie auch mit der Richtungsbezeichnung ›rechts‹ steht er im Gegensatz sowohl zu den politischen Konsequenzen der Französischen Revolution als auch zu den sozialen Bewegungen, die über deren Rahmen hinausweisen.
Für Marx und die kommunistische Bewegung des Vormärz ist jeder K durch die moderne Entwicklung und den Kampf des modernen Proletariats zum Untergang verurteilt. Im Manifest wird das Urteil doppelter Überholtheit dadurch bekräftigt, dass die wesentlichen Elemente konservativer Beharrung als unvermeidlich der Zerstörung durch die revolutionierende Kraft der Bourgeoisie geweiht erscheinen: Sie hat »alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse«, die »buntscheckigen Feudalbande« zwischen Herren und Knechten, »die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut«, alle »verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten« »in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt« (…).
Trotz dieser Tendenzen gewinnen konservative Ideen und politische Richtungen eine nachhaltige Existenz durch den für Adel und Bourgeoisie aus Gründen der Herrschaftserhaltung oder -stabilisierung entstehenden Zwang zur Anpassung und zum Kompromiss. Chateaubriand, der Konstitutionalismus und Monarchie zu verbinden suchte und sein Hauptwerk Napoleon widmete, hat von 1818 bis 1820 die Zeitschrift Le Conservateur herausgegeben (vgl. Schrenck-Notzing 1996; Filler 1987) die der neuen Richtung ihren Namen gegeben hat. Das Adjektiv »conservateur«, das zunächst das »Selbstverständnis des Napoleonischen Systems ausdrückt, das die Revolution voraussetzt, aber auch abschließt«, wird in diesem Zusammenhang »nach der Wiederherstellung der bourbonischen Monarchie« zur »programmatischen politischen Richtungs- und Parteibenennung« (Vierhaus, GG 3).
Obwohl ursprünglich gegen bürgerlichen Fortschritt und Liberalismus gerichtet, wurde der K im Gefolge sozioökonomischer Strukturwandlungen und politischer Machtverschiebungen zu Zugeständnissen an Konstitutionalismus, bürgerliche Rechtsordnung und Parteienwesen gezwungen. So hat Gramsci auf den ‘wesentlich »liberalen« Charakter der Restauration aufmerksam gemacht, denn jede Strömung war nunmehr gezwungen, sich als Partei im Gegensatz zu anderen zu organisieren (…). Begünstigt von feudal-bourgeoisen Klassenkompromissen, trat die Gegnerschaft zu demokratischen wie sozialistischen bzw. kommunistischen Ideen und Bewegungen ins Zentrum konservativer Politik und Ideologie. Der K wurde damit zu einem Element, das den Begriff der bürgerlichen Ordnung mit aufbaute. Aus radikaldemokratischer wie kommunistischer Sicht erschienen mithin als »konservativ« sämtliche, die bürgerliche Gesellschaft legitimierende Richtungen.
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