Kreationismus

A: ḫalqiyah. – E: creationism. – F: créationnisme. – R: kreacionizm. – S: creacionismo. – C: chuangzaolun 创造论

Dominique Lecourt

HKWM 7/II, 2010, Spalten 1955-1968

Unter K werden verschiedene Lehren zusammengefasst, die sich auf den Wortlaut der beiden Schöpfungsberichte der Genesis, die als vormoderne Formen naturwissenschaftlicher Texte verstanden werden, beziehen und moderne naturwissenschaftliche Erklärungen wie Evolutions- oder Urknalltheorie ganz oder teilweise ablehnen. Der K entstand als Reaktion auf das im 19. Jh. sich endgültig etablierende Entwicklungsdenken in Kosmologie, Geologie und Biologie. Als Selbstbezeichnung kam »creationism« zuerst in den USA in den 1920er Jahren auf, mit seitdem wechselnden Ein- und Ausschlüssen, was u.a. auf Kontroversen um die richtige Interpretation der Genesis zurückzuführen ist (vgl. Numbers 1995); von dort gelangte der Begriff als K ins Deutsche. Wichtigste Varianten sind der Junge-Erde-K, der eine wörtlich verstandene Schöpfung in sechs Tagen und ein Erdalter von höchstens 10000 Jahren behauptet, und der Alte-Erde-K, der ein Erdalter von mehreren Milliarden Jahren anerkennt, indem jeder biblische Schöpfungstag als Zeitalter interpretiert oder lange Lücken zwischen den Schöpfungstagen angenommen werden (Kotthaus 2003). Im Gegensatz zu diesen akzeptiert die kreationistische Strömung des Intelligent Design die Entwicklung der Arten, hält aber zusätzlich zu den Mechanismen der Evolution ein ständiges Eingreifen Gottes für nötig und beweisbar. Die Sichtweise der theistischen Evolution hingegen – die als »Schöpfungsglaube« nicht mehr zum K im engeren Sinne zählt – akzeptiert die Evolutionstheorie und betrachtet sie als die göttliche Methode der Schöpfung.

Der K ist jedoch nicht einfach nur ein theologisch motivierter Angriff auf die Naturwissenschaften, sondern eine Bewegung mit weitreichenden politischen Zielen. Indem er darauf abzielt, den wissenschaftlichen Materialismus insgesamt und damit auch das Fundament der Sozialwissenschaften zu untergraben, strebt er eine grundlegende politisch-moralische Wende an. Virulent ist seit der zweiten Hälfte des 20. Jh. v.a. seine Verbindung zur religiösen Rechten und zum Neokonservatismus in den USA, wo seine Vertreter z.B. aggressive Kampagnen gegen Abtreibung und Homosexualität organisieren. Eine wesentliche Strategie des K in den USA war stets sein Versuch der Aushebelung der wissenschaftlichen Ausrichtung des staatlichen Schulunterrichts und somit der Trennung von Kirche und Staat. Der K kann als ein Ausdruck von Religionsverfall, als ein Verwesungsprodukt von Religion angesehen werden, da er weit hinter moderne theologische Auffassungen zurückfällt.

Auch zu Beginn des 21. Jh. ist der K weit verbreitet. Die Vorstellung, dass »die heutigen Menschen sich aus früheren Tierarten entwickelt haben«, akzeptieren in Europa 70%, in den USA 40% und in der Türkei weniger als 30% der Bevölkerung (Miller u.a. 2006), wobei ein Großteil der jeweils übrigen – zumindest in den USA und der Türkei – kreationistischen Ideen nahe steht. Der K tritt v.a. im Protestantismus auf, aber auch im Islam und vereinzelt im Judentum. Dass die Evolutionstheorie auch innerhalb der katholischen Kirche – trotz der dort mehrheitlich vertretenen theistischen Evolution – immer wieder umstritten ist, zeigt das Beispiel des Wiener Kardinals Christoph Schönborn. In einer Aufsehen erregenden Intervention nach dem Papstwechsel bezeichnete er die Evolutionstheorie als »unwissenschaftlich« und »Abdankung der menschlichen Vernunft«, da sie die Evolution als »ungeplanten Prozess von zufälliger Variation und natürlicher Selektion« ansehe, und propagierte stattdessen Vorstellungen aus dem Umfeld des Intelligent Design (New York Times, 7.7.2005).

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