Kohärenz

A: tamāsuk. – E: coherence. – F: cohérence. – R: kogerentnost’. – S: coherencia. – C: lianguanxing 连贯性

Peter Jehle, Peter Thomas (I.), Wolfgang Fritz Haug (II.)

HKWM 7/II, 2010, Spalten 1096-1107

I. Wo die Lebenszusammenhänge strukturell zersetzt sind, wird das individuelle wie kollektive Sich-kohärent-Arbeiten zur permanenten Aufgabe. Im Horizont des K-Begriffs tritt die Hauptschwäche poststrukturalistischer und dekonstruktivistischer Ansätze hervor: Sie können K als ein Handeln in Widersprüchen nicht denken, weder auf der psychologischen – das verbietet ihnen der Lacanismus, der das freudsche Ich als K-Instanz eskamotiert hat – noch auf der hegemonietheoretischen Ebene. Der stets drohende Essenzialismus-Verdacht trifft unterschiedslos jedes Emanzipationsprojekt, das an der bestimmten Negation herrschaftlicher Verhältnisse gezielt zu arbeiten versucht. Was auf dem Spiel steht, hat Gramsci so formuliert: Ist es vorzuziehen, »›zu denken‹, ohne sich dessen kritisch bewusst zu sein, auf zusammenhangslose und zufällige Weise […], oder ist es vorzuziehen, die eigene Weltauffassung bewusst und kritisch auszuarbeiten und folglich […] an der Hervorbringung der Weltgeschichte aktiv teilzunehmen, Führer seiner selbst zu sein und sich nicht einfach passiv und hinterrücks der eigenen Persönlichkeit von außen den Stempel aufdrücken zu lassen?« (Gef) Was vorgezogen wird, in welches Bewusstsein, welche Identität und welche Politik sich die Stellung im Produktionsprozess übersetzt, steht nicht von vornherein fest. Daher die Bedeutung organischen, d.h. Zusammenhangslosigkeit und Zufälligkeit überwindenden Handelns, das geeignet ist, »dem amorphen Massenelement Persönlichkeit zu geben« (…).

K gehört in die Reihe der Begriffe, deren Bedeutung erst hervortritt, wenn es mit dem »mechanischen historischen Materialismus« vorbei ist, der »jeden politischen Akt als von der Struktur determiniert« unterstellt (…) und dem mithin die Herstellung von K im Bildungsprozess kritischer Subjekte nicht zum Problem werden kann. Während die deutschen Auswahlbände von Gramscis Gefängnisheften bei der Wiedergabe von »coerenza/coerente« noch zwischen verschiedenen Umschreibungen schwankten – indem sie etwa derivato coerente (»kohärentes Derivat«) als »organisch abgeleitetes Prinzip« (B) oder concetti sistematicamente coerenti (»systematisch kohärente Begriffe«) als »systematisch miteinander verbundene Begriffe« (B) bzw. »in sich geschlossene systematische Anschauungen« (…) wiedergaben (vgl. W.F.Haug, Einleitung zu Bd. 6) –, wird erst in der kritischen Ausgabe des Gesamtwerks der spezifische Akzent deutlich, den ihm Gramsci verleiht.

II. Wie die Kohäsion leitet sich auch ›K‹ ab von lat. cum (altlat. com, daher auch con-), mit, und haereo, hängen, kleben, hängen bleiben an; ›K‹ lässt sich also wörtlich mit ›Zusammenhängendheit‹ bzw. ›Zusammenhängend-Sein‹ übersetzen. Das Inkohärente ist entsprechend das Unzusammenhängende bzw. Zusammenhangslose, das Diffuse, Disparate oder Chaotische. Da bei Mangel an K der Zerfall von individueller wie kollektiver Denk- und Handlungsfähigkeit droht, spielen K-Postulate und -Kriterien mehr oder weniger in allen Bereichen gesellschaftlicher Praxis eine Rolle. Individuum und Gesellschaft müssen sich je spezifisch zu Subjekten ›zusammennehmen‹; und ihre Lebenserhaltung und -entfaltung hängt davon ab, dass sie herausfinden, wie die Dinge der objektiven Realität zusammenhängen. In der einen oder andern Weise mussten K-Fragen daher zu allen Zeiten und in allen Gesellschaftsformationen interessieren.

Um Zusammenstimmung von Regungen, Gefühlen und Handlungen auf Basis der Vernunft bemüht sich alle praktische Philosophie, auch wenn in gewissen Grenzen der Sinn von ›Vernunft‹ und damit auch die K-Kriterien gesellschaftlich wie historisch variabel sind. Das Ideal vollkommenen Einklangs heißt ›Weisheit‹. »Das Wort ist nur der Schatten der Tat«, λόγορ ἒργου σκιή, heißt es bereits bei Demokrit (DK). Man soll von den philosophischen Lehrsätzen nicht reden, sondern danach handeln, fordert Epiktet (Handbüchlein). Seit der Antike ziehen sich durch alle seitherigen Gesellschaftsformationen Variationen des ethischen K-Postulats der ›Einheit von Theorie und Praxis‹, das im Kommunismus des 20. Jh. eine enorme parteipolitische Bedeutung erhalten hat.

In der Erkenntnistheorie bindet Kants Satz, das cartesische »Ich denke« müsse alle meine Vorstellungen begleiten können, das Bewusstsein an transzendentale K, während in der Ethik sein kategorischer Imperativ K mit tendenziell allen anderen fordert. Wenn die Übereinstimmung theoretischer Sätze mit dem Realen, dessen Allgemeines sie fassen sollen, als realistisches K-Postulat verstanden werden kann, so tendiert in der neueren Epistemologie das K-Kriterium dahin, die Korrespondenztheorien der Wahrheit zurückzudrängen.

abstrakt/konkret, Alltagsverstand, Artikulation/Gliederung, Ästhetik, Bedeutung, Bewußtsein, Determinismus, Dialektik, Einheit, Empirie/Theorie, Enzyklopädie, Epistemologie, Erinnerungsarbeit, Ethik, Fatalismus, Freiheit, Gefängnishefte, Gegensatz, Geist, Gesellschaftsformation, gesunder Menschenverstand, Glück, griechische Antike, Handlungsfähigkeit, Hegemonie, Hermeneutik, historischer Materialismus, Historisches/Logisches, Historizismus (absoluter), Identität, immanente Kritik, Immanenz, Individuum, Irrationalismus, kategorischer Imperativ, Konformismus/Nonkonformismus, Kontingenz, Kritik, Kunstwerk, Lebensführung, Methode, Naturbeherrschung, Ontologie, Philosophie der Praxis, Praxis, Produktionsweise (antike), Sinn, Städtebau, Stalinismus, System, Theorie/Praxis, Totalität, Übersetzung/Übersetzbarkeit, Vernunft, Vernunftkritik, Wahnsinn, Wahrheitstheorien, Widerspruch, Wiener Kreis

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