Hermeneutik
A: at-ta’wil. – E: hermeneutics. – F: herméneutique. – R: germenevtika. – S: hermenéutica. – C: zhushuxue, jieshixue 注疏学, 解释学
Teresa Orozco, Peter Jehle
HKWM 6/I, 2004, Spalten 63-82
H im antiken Sinn ist die Kunst des ἑρμηνευÏειν, des Verkündens, Dolmetschens und Auslegens. Heute gilt H im Kern als Theorie der Interpretation (Lalande; Inwood 1998). Diese Bestimmung ist scheinklar, denn diese moderne Bedeutung, nicht anders als die antike, erweist sich als eine ausdehnungsfähige Form, die in alle Zweige des Wissens-Universums ausstrahlt: So findet sich u.a. eine theologische, juristische, musikalische, literarische, kunstgeschichtliche, psychologische, pädagogische, ethnologische, sozialwissenschaftliche H. Hinzu kommt, dass H.en im Umlauf sind, die sich durch spezifische Methodik und Erkenntnisinteressen empfehlen: konstruktivistische, handlungsorientierte, dekonstruktive, objektive, feministische, materialistische, interkulturelle H. Entsprechend dieser Vielfalt sind zentrale Konzepte wie »Sinn«, »Verstehen« oder »Bedeutung« umstritten.
Wie immer man das ›ἑρμηνευÏειν‹ genau fasst, stets geht es um ein ideelles Vergesellschaftungshandeln, bei dem es auf die Koordinierung der Vielen auf der Linie eines gesellschaftlichen Konsenses ankommt, der dann, nach innen genommen, in die Ausbildung individueller Kohärenz eingreift. In Umbruchzeiten erscheint als die ›richtige‹ Auslegung in der Regel diejenige, die vom Standpunkt der Herrschaft den geforderten Umbau des staatsförmigen kulturellen Imaginären (in Kunst, Literatur, Philosophie, Religion, Geschichte) am effektivsten betreibt. Das Auslegen existiert nicht außerhalb der Materialität von Institutionen, Praxen und Diskursen, die ein ›hermeneutisches Dispositiv‹ bilden, in dem sich der ›Sinn‹, d.h. die geschichtliche Geltung einer Aussage oder Auffassung konstituiert. Seine zentrale Figur ist der befugte Interpret, dem auf Grund seiner Position innerhalb dieses Dispositivs die Kompetenz des Auslegens zukommt, die vom Standpunkt des fertigen Resultats als Eigenschaft der Person selbst erscheint: Der Interpret bewährt sich als kompetenter, wenn es ihm etwa gelingt, den gesellschaftlichen Widersprüchen einen spezifischen geistigen Ausdruck zu verleihen, der ›in Ordnung‹ ist, weil er zur Stabilisierung der herrschaftlichen Ordnung beiträgt. Dies in doppelter Form: zum einen als Formierung und Reproduktion einer relativ autonomen Elite, die im Unterschied zu den ›Ungebildeten‹ oder ›Laien‹ mit besonderen Befugnissen ausgestattet ist; zum anderen als Festlegung und Verallgemeinerung dessen, was als Verstehen, Wahrheit, Sinn, Geschmack einer Epoche zu gelten hat und als solches eine gesamtgesellschaftliche normierende Kraft bekommt. Als theoretisch fundierte Methodenlehren weisen zwar alle H.en, namentlich juristische oder theologische, einen bestimmten Anteil von Fachwissen auf, der nicht in die Allgemeinbildung der humanistischen Elite eingeht, doch sind die Auslegung der Gesetzestexte oder der Heiligen Schrift im Kern stets aktualisierende Aneignung einer Tradition, die auf Orientierung in den Widersprüchen der Gegenwart zielt.
Was gewöhnlich als Streit der Interpretationen abgebildet wird, reflektiert die Kräfteverhältnisse im Kampf um die Deutungshoheit. Wo immer die Nöte aktueller Gesellschaftsgestaltung dazu zwingen, die Geschichte um Rat zu fragen, kann es zu Auslegungskämpfen i.S.v. »antagonistischer Reklamation« (Haug 1993) bestimmter Prinzipien oder Texte kommen.
Was für die ›kanonischen‹ Texte der Bibel – ›die Schrift‹ par excellence – gilt, holte mit der dem Ersten Weltkrieg entsprungenen Staatswerdung des Marxismus auch dessen ›klassische‹ Texte ein. Die Geschichte der ersten MEGA, deren Herausgeber David B. Rjazanov dem stalinschen Terror zum Opfer fiel (vgl. Rokitjanskij 1993), ist symptomatisch. Wo der ›Sinn‹ der Texte in letzter Instanz durch die formelle Autorität des Politbüros entschieden wird, erscheint als zu verfolgender ›Abweichler‹, wer am herrschaftskritischen Sinn festhält.
Die geläufige Reduktion von H auf philosophische H hängt mit Heideggers Anspruch einer ›Neubegründung‹ der Philosophie als »H der Faktizität« (1923) zusammen, die die bis dahin eher »marginale Technik zweiten Grades« (Ferraris 2002) ins Zentrum rückt. Während Rudolf Eislers Philosophischem Wörterbuch H nur eine kleine Notiz wert war, widmet ihr dessen ›Nachfolger‹ HWPh 1974 bereits 12 Spalten. Der Erfolg der heideggerschen H kann nicht ohne den »genetischen Hintergrund« (Haug 1993) von Philosophie als sinnstiftender Macht begriffen werden: Der Untergang der Polis als geschichtlicher Macht war Anlass ihrer »Idealisierung im Denken« durch Aristoteles, aber nicht im Sinne einer menschheitlichen Utopie; vielmehr ist »die Ordnung, die da in Gedanken gefasst und ideell reproduziert wird, […] Herrschaftsordnung: auf rücksichtslosem Naturverbrauch fußende Herrschaft von Männern über Frauen, gekreuzt mit Herrschaft über Sklaven« (…). Die Frage nach der »sinnstiftenden Funktion« der Philosophie als einer »komplementären imaginären Rekonstruktion« der »Zerrissenheit des Gemeinwesens« (…), die bei Hegel die Notwendigkeit von Philosophie begründet (vgl. W 10), bietet einen Rahmen, um die philosophische H kritisch zu befragen und an ihr gerade das zu studieren, was »nicht philosophisch« ist, wie es bei Gramsci (Croces Marxismus-Kritik umfunktionierend) heißt: »die praktischen Tendenzen und die gesellschaftlichen und klassenspezifischen Affekte, die diese repräsentieren« (Gef).
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