HIV, AIDS
A: maraḍ al-‛awaz al-manā‛ī al-muktasab. – E: HIV, AIDS. – F: VIH, SIDA. – R: VIČ, SPID. – S: VIH, SIDA. – C: renti mianyi quexian bingdu, aizi bingdu 人体免疫缺陷病毒, 爱滋病毒
Raimund Geene, Victor Rego Diaz, Scott Tucker
HKWM 6/I, 2004, Spalten 422-434
AIDS im Sinne von übertragbaren »Erkrankungen und Schwächungen des körpereigenen Immunsystems« wurde erstmals 1981 diagnostiziert. V.a. in der us-amerikanischen ›gay community‹ führte die Seuche zu einem Massensterben. Da bei den Übertragungswegen tabuisierte und z.T. rechtlich diskriminierte Praxen und Lebensweisen wie (Homo)Sexualität, Promiskuität, Prostitution, sexuelle Gewalt, Drogengebrauch etc. im Spiel waren, schien die Gefahr zunächst als »Schwulenkrebs« oder »Lustseuche« (Frings 2000) ideologisiert und abgedrängt werden zu können. Doch bald sprengte die Krankheit diese Möglichkeit, bis sie schließlich als universelle Herausforderung im Zeichen der ›Globalisierung‹, ja sogar zunehmend als Erscheinungsform einer allgemeinen Krise einer neoliberalen Konsumtionsökonomie begriffen wurde, in der »das Kapital den empfindenden Körper immer aggressiver zur Ware macht« (Hennessy 1996).
Im Sinne einer sozial-moralischen Folgenabschätzung lässt sich das »AIDS-Paradigma der Moral« mit dem »Syphilis-Paradigma« der Wende vom 19. zum 20. Jh. vergleichen, dessen phantasmatische Wirksamkeit die medizinische Besiegbarkeit der Seuche weit überdauert und dem Nazismus ihre Angst-, Projektions- und Verfolgungsdynamik mitgeteilt hat (Haug 1986; 1990). Wie andere große Katastrophen führten die kollektiven und institutionellen Reaktionen auf AIDS im Zusammenwirken mit der politisch-konfliktiven Verarbeitung und der kommerziellen Ausnutzung zu einschneidenden sozial-moralischen Veränderungen. Aufklärung (öffentliche Kondomwerbung, Enttabuierung schwuler Lebensweisen) und Gegenaufklärung (AIDS als ›Strafe Gottes‹ für außerehelichen oder ›widernatürlichen‹ Sex) bildeten eine widersprüchliche Gemengelage. Die neoliberale Politik nutzte die schwule Selbsthilfebewegung, indem sie diese als Lobby für Gruppeninteressen behandelte, als Wegbereiter einer Einschränkung des allgemeinen Gesundheitswesens. Die AIDS-Katastrophe in der Dritten Welt, deren Bekämpfung durch Armut erschwert und durch Verwertungsinteressen der transnationalen Pharmakonzerne blockiert wird, wirft Fragen der Grenzen ›intellektueller Eigentumsrechte‹ auf. Insgesamt ist das AIDS-Drama lesbar unter den Fragen von Geschlecht, Rasse und Klasse, Beispiel umkämpfter kontingenter sozialer Veränderung.
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