Nazismus

A: nāzīya. – E: Nazism. – F: nazisme. – R: nacizm. – S: nazismo. – C: Nàcuìzhǔyì 纳粹主义

Jan Rehmann

HKWM 9/II, 2024, Spalten 2303-2330

Auch für den N gilt, dass sein Begriffsgehalt aus dem ihn umgebenden semantischen Feld zu erschließen ist, nämlich zum einen in ideologiekritischer Abgrenzung zum v.a. im deutschsprachigen Raum weitverbreiteten Terminus ›Nationalsozialismus‹, von dem er sich sprachlich ableitet, zum anderen konkretisierend im Verhältnis zum Begriff des Faschismus.

›Nationalsozialismus‹ war die Selbstbezeichnung des deutschen Faschismus, seiner Partei (NSDAP), der ihr unterstellten Organisationen und des NS-Staats. Sie war Teil des Versuchs, die in sich gespaltene sozialistische Arbeiterbewegung der Weimarer Republik durch partielle Nachahmung und ideologische Gegenbesetzung zu bekämpfen. Obwohl der Faschismus explizit die Vernichtung des gegnerischen Sozialismus in all seinen Varianten proklamierte und terroristisch durchführte, hielt man nach 1945 an dem irreführenden Eigennamen fest. Denn nur indem er auf eine Variante des ›Sozialismus‹ verwies, konnte er zur Signatur einer in der BRD vorherrschenden ›Vergangenheitsbewältigung‹ werden, die den Zusammenhang mit dem Kapitalismus, die Rolle des Großkapitals und der bürgerlichen Eliten bei der Machteinsetzung sowie die Bedeutung der Konservativen im faschistischen »Zweikomponentengebilde« aus Bewegungsfaschismus und Ordofaschismus (Haug 1993, 345) verdrängte. Zugleich eignete sich der Terminus im Rahmen der Systemkonfrontation und der sie begleitenden ›Totalitarismustheorie‹ dazu, den deutschen Faschismus mit dem Staatssozialismus der Sowjetunion gleichzusetzen (rot = braun), zu dessen Vernichtung er angetreten war. Da die Bekämpfung sozialistischer Perspektiven und Lösungsansätze auch nach der welthistorischen Niederlage des sozialistischen Lagers eine zentrale Rolle in der bürgerlichen Politik einnimmt, behält die suggerierte Rot-Braun-Gleichsetzung auch im Zeitalter westlicher Globalpolitik ihre Relevanz.

Im Gegensatz zum »Markennamen« des ›Nationalsozialismus‹ (Voigt 1975, 247) signalisiert der Ausdruck N – phonetisch gebildet aus den ersten zwei Silben analog zu ›Sozi‹ aus Sozialdemokrat – bereits in der Alltagssprache eine kritische Distanz. So stellt der Duden sowohl N als auch Nazi als »abwertende« Termini vor und veranschaulicht dies durch Verknüpfungen wie »Nazibonze«, »Naziregime«, »Nazidiktatur« oder auch »Nazisse« (1978, Bd. 4, 1866). »Hitler hätte sich selbst nicht als Nazi bezeichnet. […] Er hätte sich als Nationalsozialist verstanden. Nazi ist, und war immer, eine Beleidigung.« (Forsyth 2012, 124) Zuweilen versuchte die NSDAP-Führung, das Wort positiv gegenzubesetzen (124f), so z.B. in Joseph Goebbels’ Schrift »Der Nazi-Sozi«. Fragen und Antworten für den Nationalsozialisten (1927), aber diese Versuche wurden bald wieder aufgegeben.

Ähnlich wie der Terminus Hitlerfaschismus, aber sprachlich näher an der Eigenbezeichnung, wurde der Terminus N im antifaschistischen Widerstand aufgenommen, eine Verwendung, die nach der Befreiung des KZ Buchenwald im sog. Schwur von Buchenwald vom 19. April 1945 ihren Ausdruck findet: »Die Vernichtung des N mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.« (Zit.n. Carlebach u.a. 2000, 153) Der spätere SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher betont in seiner ersten Nachkriegsrede am 6. Mai 1945, da die NSDAP aus der Feindschaft gegen die arbeitenden Klassen entstanden sei und den Namen Sozialismus besudelt habe, könne man nicht von ›Nationalsozialismus‹ reden, »sondern nur von ›Nazis‹ und ›N‹« (1972, 8; vgl. Plener 2017, 236). Vor allem über die deutschen Flüchtlinge gelangte die N-Terminologie in die USA und nach England, wo sie mit Ausdrücken wie »Nazi Germany«, »Nazi Regime« usw. die öffentlichen und auch akademischen Diskurse bestimmte. Ein frühes Beispiel dafür ist die von der Labour Party im Juli 1934 herausgegebene Broschüre Nazis, Nazism, Nazidom (verfasst vermutlich von Arthur Rosenberg und Franz Leopold Neumann), die aufzeigt, dass die Programmatik der NSDAP nichts mit Sozialismus zu tun hat und die an Mittelstandsinteressen ausgerichteten Programmpunkte allesamt unerfüllt bleiben, sodass der N vielmehr als Instrument des Monopolkapitals gegen die untere Mittelschicht und die Arbeiterschaft operiere (1934, 22). »Der N und der italienische Faschismus haben im Interesse der Großindustriellen, Bankiers und Grundbesitzer all jene Gruppen und Klassen verraten, von denen sie unterstützt wurden.« (26)

Aufgrund dieser Genealogie ist der Terminus N geeignet, zu einem Begriff ausgearbeitet zu werden, um im Rahmen einer vergleichenden Faschismustheorie eine deutsche Spezifik zu begreifen, die sich v.a. durch eine besondere Vernichtungsqualität auszeichnet und als Kombination mehrerer ›Endlösungen‹ beschrieben werden kann.

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n/nazismus.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/04 20:25 von christian     Nach oben
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