Natur

A: ṭabīʽa. – E: nature. – F: nature. – R: priroda. – S: naturaleza. – C: zìrán 自然

Timothée Haug

HKWM 9/II, 2024, Spalten 1969-2007

Die N ist die Grundbedingung unserer menschlichen Existenz. Anders als die »Materie als solche« stellt sie keine »Gedankenschöpfung« (Engels, DN, 20/519) dar, sondern meint die konkrete Totalität unserer Erfahrung, die wir nur durch einen praktischen Bezug zur Welt erkennen können. Indem wir natürliche Wesen und Prozesse für unsere Zwecke nutzen, lernen wir sukzessive die Wirkungszusammenhänge der N kennen. Sie ist dabei nie einfach nur Objekt, Mittel oder äußeres Gegenüber der menschlichen Praxis. Vielmehr ist ihre Aneignung durch Arbeit eine Vermittlung – und zwar eine bewusste und gesellschaftlich bestimmte – des ganzen Naturprozesses mit sich selbst, wie es der junge Marx in der wegweisenden Formulierung des »Durchsichselbstseins der N und des Menschen« auf den Begriff bringt (Ms 44, 40/545).

Von der N als einem ›Ding‹ kann hingegen nur die Rede sein, wenn man einen idealistischen bzw. metaphysischen Standpunkt einnimmt, von dem aus sie als ein abgegrenztes und einer primordial-geistigen Realität entgegengesetztes Gebiet erscheint. Marx weist diese Weltanschauung sowie die mit ihr einhergehende »Schöpfungstheorie« zurück (ebd.) und knüpft stattdessen an die antike materialistische Tradition an, wonach N zugleich die allumfassende Realität und das Prinzip des Werdens bezeichnet. Das Neue seiner Auffassung – im Unterschied zum deterministischen Materialismus – besteht dabei in einer immanenten Differenzierung zwischen dem Ganzen der N und ihrer spezifisch menschlichen Existenzweise als historische Praxis der Aneignung der N durch Arbeit.

Von diesem Standpunkt aus lässt sich die marxsche Kritik der Gesellschaft zugleich als eine Kritik der gesellschaftlichen Mensch-N-Verhältnisse lesen. In den Pariser Manuskripten dient ihm zunächst eine naturalistische Anthropologie als Basis und Kriterium für eine Kritik der entfremdeten Arbeit; im Kapital wird später die allgemeine Bestimmung der Arbeit als »Prozess, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der N durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert« (K I, 23/192), von entscheidender Bedeutung für die Analyse der herrschenden Produktionsweise und die Aufdeckung einer ökologischen Krise der industrialisierten Agrikultur.

Unter Berücksichtigung der Abhängigkeit des Menschen von der N ist es auch möglich, ihren Begriff von dem der Materie weiter zu unterscheiden. Obwohl sich beide auf dasselbe objektive Gebiet beziehen, fügt die marxsche Auffassung von N als Existenzbedingung des menschlichen Lebens der materiellen Welt eine weitere Bestimmung hinzu. N ist Materie, die sich in Form eines organisierten Systems gestaltet oder erhält, was auch durch erst im 20. Jh. populär gewordene Begriffe wie Biotop, Ökosystem oder Biosphäre gefasst wird. N als dieses System zu begreifen bedeutet, sie immer sowohl als Voraussetzung wie auch als Produkt der produktiven Tätigkeit des Menschen aufzufassen.

Zwar kann eine dualistische Trennung von N und Gesellschaft als ideologischer Interpretationsrahmen fungieren, um geschichtlich veränderbare Verhältnisse als ›natürliche‹ zu rechtfertigen oder Naturbeherrschung gegen jede gesellschaftliche Kritik zu immunisieren (vgl. Smith 1984/2008, 28). Der N-Begriff darf aufgrund solcher Indienstnahme aber nicht auf die dualistische Auffassung festgelegt und somit als rein ideologische Kategorie verworfen werden (vgl. z.B. Latour 1991/1995, 20f; Descola 2005/2011, 115-20) – zumal die wissenschaftliche Anerkennung des anthropogenen erdsystemischen Wandels bereits zur Überwindung der Vorstellung einer ›reinen N‹ als einer »vom Menschen unbeeinflussten Welt« geführt hat (McKibben 1990, 57f). Zweifellos hat eine bestimmte idealistische Strömung der Moderne zur Verobjektivierung der N geführt, sie mit einem beherrschbaren Mechanismus gleichgesetzt und alle Art von schaffender Produktivität anthropologisiert. Man sollte die Unterscheidung von N und Gesellschaft deshalb aber nicht als den Sündenfall des abendländischen Denkens ansehen, das laut Philippe Descola seit seinen griechischen Ursprüngen die N-Kategorie nur als »ontologisches Dispositiv« (2005/2011, 107), d.h. als Rechtfertigungsmittel der dualistischen und anthropozentrischen Trennung zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Wesen anwendet (99-142); stattdessen ist diese Unterscheidung als eine immanente dialektische Differenzierung, als Einheit von Identität und Differenz zu verstehen, die immer wieder als Problem in der Geschichte der Philosophie auftaucht und die zu begreifen Voraussetzung zur Bewältigung der existenzbedrohenden ökologischen Krise im 21. Jh. ist.

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n/natur.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/04 19:38 von christian     Nach oben
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