Naturbeherrschung
A: saiṭara ʽalā aṭ-ṭabīʽa. – E: domination of nature. – F: domination de la nature, maîtrise de la nature. – R: ovladenie prirodoj, gospodstvo nad prirodoj. – S: dominio de la naturaleza. – C: zhīpèi zìrán 支配自然
Christoph Görg
HKWM 9/II, 2024, Spalten 2099-2109
Die Idee der N ist tief in die europäische Kulturgeschichte eingelassen. Sie markiert einen konzeptionellen Fluchtpunkt in der Gestaltung der Mensch-Natur-Beziehungen, den es in vielen außereuropäischen Kulturen so nicht gibt. Was N von anderen Gestaltungsformen der gesellschaftlichen Naturverhältnisse abhebt, entwickelt sich deutlich erst mit dem Auftreten des Kapitals. »Die Natur wird«, wie Marx bemerkt, »rein Gegenstand für den Menschen, rein Sache der Nützlichkeit; hört auf, als Macht für sich anerkannt zu werden; und die theoretische Erkenntnis ihrer selbständigen Gesetze erscheint selbst nur als List, um sie den menschlichen Bedürfnissen, sei es als Gegenstand des Konsums, sei es als Mittel der Produktion, zu unterwerfen.« (Gr, 42/323) Mit der Aufklärung avanciert N zum Leitbild von Wissenschaft und Technik, Ökonomie und Kultur. Die globale Vorherrschaft der auf Lohnarbeit und Kapital gegründeten Produktions- und Lebensweise hat sie in die Strukturen und Institutionen der Weltgesellschaft eingeschrieben.
Das Leitbild der N bestimmt auch große Teile der bürgerlichen Soziologie des 20. Jh. Der Mensch, heißt es etwa bei Émile Durkheim, »ist stärker als die Natur, weil er sie zum Schweigen gebracht« und dadurch »eine bestimmte Herrschaft über die Dinge« errichtet habe (1912/1981, 428). Gesellschaftliche Hierarchien fungieren hier als Modell für N, indem das Verhältnis »zwischen Natur und Gesellschaft« wie das »zwischen Individuum und Gesellschaft« als eines der »herrschaftsförmigen Unterordnung« begriffen wird (Görg 1999, 76). Nach Max Weber ist die Idee der N Teil des abendländischen Rationalisierungsprozesses, der vom Glauben angetrieben werde, »alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen« zu können (1919, GA I.17, 87). Gleichwohl war die Idee der N in der europäischen Geschichte umstritten. Zu Beginn des 21. Jh. wird sie sowohl durch sich zuspitzende sozial-ökologische Krisen als auch durch sich aus der Kolonialgeschichte fortschreibende Konflikte herausgefordert, insofern andere Kulturen die destruktiven Folgen einer nicht von ihnen betriebenen N nicht ohne Widerspruch hinnehmen.
Marx und Engels nehmen mit ihren Hinweisen auf die ökologische Destruktivität des Kapitalismus den Kern vieler Debatten um die ökologische Krise und eine nachhaltige Gestaltung der Naturverhältnisse vorweg. Dagegen herrscht im Marxismus lange Zeit ein Produktivitätsglaube vor, der die Fähigkeit zur Steigerung der N unreflektiert als Grundlage sozialer Emanzipation affirmiert. Dem steht eine in der Geschichte kritischer Theorie bes. einflussreiche Traditionslinie gegenüber, die an ein »Eingedenken ans eigene Naturwesen« gemahnt und auf eine »Versöhnung« von Mensch und Natur orientiert (Adorno, 1959, GS 11, 134). So stellt Ernst Bloch der N die Utopie einer »Naturallianz« entgegen (1959, PH, 813). Walter Benjamin formuliert eine Kritik der N, die auch die Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno wesentlich beeinflusst. Die Kritik der N gilt ihnen als Ausgangspunkt eines neuen Emanzipationsbegriffs. Für die Debatten um den anthropogenen Klimawandel, um ein vom Menschen geprägtes neues Erdzeitalter (das sog. Anthropozän) oder um eine tiefgreifende Transformation der Naturverhältnisse spielt diese Kritik eine zentrale Rolle. Eine offene und umstrittene Frage ist allerdings, wie eine Gestaltung der Naturverhältnisse praktisch werden kann, die die destruktiven Formen der N überwindet und gleichwohl eine Emanzipationsperspektive eröffnet.
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