Hexe
A: as-sāḥira. – E: witch. – F: sorcière. – R: ved’ma, koldun’ja. – S: bruja. – C: wu shu 巫术
Frigga Haug (I.), Dagmar Engelken (II.), Montserrat Galcerán (KG) (III.)
HKWM 6/I, 2004, Spalten 206-218
Faszination und Verfolgung treffen sich in der Gestalt der Hexe. Es scheint, dass die »welthistorische Niederlage« (Engels) der Frauen, die jahrtausende alte patriarchalische Herrschaft und der Widerstand dagegen dem damit verbundenen Frauenbild seine Ambivalenz eingeprägt haben. Insofern die Hexenforschung Geschichte kritisch zur vom Standpunkt der Sieger geschriebenen Geschichte gegen den Strich liest, erhält sie eine besondere Brisanz. Die Etymologie von ›Hexe‹ ist unklar. »Das auf das Westgerm. beschränkte Wort (mhd. hecse, hesse, ahd. hagzissa […] aengl. haegtes(se), verkürzt engl. hag) ist eine verdunkelte Zusammensetzung«, zurückgehend auf »Hag« (Zaun, Hecke, Gehege) vermutl. in Verbindung mit »norw. (mundartlich) tysja« (Elfe; verkrüppelte oder zerzauste Frau; vgl. Etymol Wb; Duden, Herkunftswörterbuch); andererseits: »das schweiz. fem. ›hagsch, hâgsch‹ = ›verschmitztes Weib, Hexe‹ mag dasselbe Wort sein.«
I. Frauenbewegung und Hexenforschung. – Kein Symbol hat sich in der Zweiten Frauenbewegung der westlichen Länder so erfolgreich durchgesetzt wie das der Hexe. In ihr verdichten sich Verzweiflung und Anklage, trotziges Selbstbewusstsein und Hoffnung, Aufbegehren und Trauer. Die Hexe stand für Jahrhunderte von Frauenunterdrückung und Gewalt, für geheimes Wissen von Frauen und die Niederwerfung des weiblichen Geschlechts, seine Entmachtung durch Ärzte und Wissenschaft, den Ausschluss der Frauen aus diesseitiger gesellschaftlicher Macht. Aber die Hexe stand auch für die selbstbewusste freiwillige Übernahme von Zuschreibungen wie List, Tücke, Aggression, war Selbstermächtigung und Kampfansage an die Unterdrücker. Eine Zeit lang gab es kein Zimmer einer Bewegungsfrau, durch das keine Hexe ritt; als Stoffpuppe auf dem Besen wurde die Hexe beliebtes Geschenk, wurde die Hexenproduktion ein einträgliches Geschäft. Bald hießen Frauenkneipen z.B. Blocksberg ein Buch Hexengeflüster, eine Frauenrockband »verkündet die Wiederkehr der H.n« (Bovenschen 1977). Irmtraud Morgner schrieb ihren Hexenroman Amanda, der die Spaltung der Frauen in eine ›normale‹ Tages- und eine hexische Nachtgestalt subversiv ausfüllt, die hexische Zuschreibung an Frauen in politische Tugend verwandelt, die Fähigkeit, sich des Nachts revolutionär zusammenzurotten (auf dem Blocksberg), um die bei Tage begonnenen reformistischen Verbesserungen in die richtige Richtung zu lenken.
II. Neuere Hexenforschung. – V.a. im angelsächsischen Sprachraum wurden seit Mitte der 1970er Jahre eine Reihe von Annahmen feministischer Hexenforschung in Frage gestellt. Christina Larner kritisiert, selbst aus feministischer Perspektive, Ehrenreichs und Englishs Annahme einer engen Verbindung zwischen Hexenverfolgung und Zerstörung weiblicher Heilkunde durch die moderne Ärzteschaft: »The main usurpation of midwifery by males took place in the eighteenth century after the witch-hunt was over.« (1981) Auch wenn die männliche Ärzteschaft von der Unterdrückung weiblicher Heilkundiger profitiert habe, könne sie nicht für die Hexenverfolgungen verantwortlich gemacht werden. Larner zufolge war Hexerei nicht »geschlechtsspezifisch« sondern »geschlechtsbezogen« (…). Während das Hexenstereotyp klar weiblich definiert war, gelte dies nicht für die Hexenverfolgung. Wiewohl mehr als 80% der Hexen Frauen waren, sei das Böse, das sie repräsentierten, ihnen nicht unmittelbar als Frauen zugeschrieben worden, da ja etwa der Teufel selbst männlich sei. »Witch-hunting was directed for ideological reasons against the enemies of God.« (…) Doch das verkennt, dass ideologische Verurteilungen dieser Art regelmäßig »im höchsten ›Oben‹ ihren Ursprung« behaupten (PIT 1979). Der starke Anstieg der historischen Forschungen seit den 1970er Jahren ermöglichte ein zunehmend genaueres Bild von den Ursprüngen des Hexenstereotyps und der Hexenverfolgungen. Dabei wurde u.a. die Bedeutung des Hexenhammers in Frage gestellt.
III. Bes. seit den 1970er Jahren wurden die von radikal-religiösen Diskursen überlagerten gesellschaftlichen Spannungen im Umkreis der Hexenprozesse ausgeleuchtet, die für die weltlichen und geistlichen politischen Machthaber eine Bedrohung darstellten. Für Marvin Harris (1974) brachte das Hexenwesen nicht so sehr volkstümliche Unzufriedenheit zum Ausdruck, als dass es »größtenteils eine Erfindung der herrschenden Klassen [war], die zum Zwecke der Unterdrückung des anschwellenden christlichen Messianismus am Hexenwahn festhielten […]. Der praktische Sinn […] bestand […] darin, die Verantwortung für die Krise der spätmittelalterlichen Gesellschaft von Kirche und Staat wegzuverlagern und statt dessen auf imaginäre Dämonen in Menschengestalt abzuwälzen.« (1993) – In diesem Sinne hatte ein Jahrzehnt früher bereits Julio Caro Baroja (1961) festgestellt, dass zumindest im Baskenland die Ermittlungen gegen Hexen und das Einschreiten des Inquisitionsgerichts häufig von örtlichen Honoratioren veranlasst wurden. Wenn es dabei wiederholt zu Erhebungsversuchen gegen die Inquisitoren gekommen sei, belege das sowohl die Unbeliebtheit der Hexenprozesse beim Volk als auch das Klima der Konfrontation, in dem sie stattfanden. Die massive Unterdrückung des Hexenwesens wird aus dieser Perspektive als Ergebnis einer politischen Strategie ausgemacht: Die von obrigkeitshörigen Kanzelpredigern angefeuerten und durch Strafandrohung gegenüber Denunziationsverweigerern beförderten Hexenprozesse lenken in einer Zeit schwerer Krisen und Aufstände die Aufmerksamkeit von den Verantwortlichen ab und richten sie auf die ärmsten und exponiertesten Teile der Bevölkerung. Dabei bleibt jedoch die Frage offen, warum die Hexen überwiegend Frauen waren, warum also der Hexenglaube im gesellschaftlichen Imaginären im Hinblick auf die Frau angelegt war.
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