klassisch

A: klāsīkī. – E: classical. – F: classique. – R: klassičeskij. – S: clásico. – C: gudiande 古典的

Peter Jehle

HKWM 7/I, 2008, Spalten 897-920

»Oftmals wurde geehrt und ausgiebig / Der Genosse Lenin. Büsten gibt es und Standbilder. / Städte wurden nach ihm benannt und Kinder.« Doch die Teppichweber von Kujan-Bulak, die sich zunächst der gängigen Sprache bedienen und zur »gipsernen Büste« greifen wollen, besinnen sich eines besseren: Sie kaufen für das gesammelte Geld Petroleum, um die Fieber bringenden Stechmücken auszurotten. »So nützten sie sich, indem sie Lenin ehrten und / Ehrten ihn, indem sie sich nützten, und hatten ihn / Also verstanden.« (Brecht) In billigen Gips gebannt oder in Stein gehauen, wird, was Genosse war und eingreifend Handelnder, zum Gegenstand ehrfurchtsvoller Verehrung. Der Blick geht nach oben, aufs Podest, nicht in die Wirklichkeit. Der versteinerte Lenin wird zum Sinnbild für die Versteinerung der Verhältnisse, nützlich für die Aufrechterhaltung der Subalternität der Unteren. Nur durchs Handeln der Lebenden, ›indem sie sich nützen‹ und dem Ritual staatlicher Erinnerungspolitik den Gehorsam verweigern, wird das Vorbild wieder lebendig, also »verstanden«.

Was »klasse« ist, verdient zu Recht Bewunderung. Das in der antiken Welt hervorgetretene handwerklich-künstlerische Können bestimmt in vielen Regionen der Welt bis heute, was als vollendet gilt. Das Werk – gemalt, gemeißelt oder in Verse gesetzt – verleiht dem Flüchtigen Dauer. Noch die kümmerlichste Gestalt macht, aufs marmorne Ross gesetzt oder in idealer Landschaft gemalt, eine gute Figur. Solches Können empfiehlt sich der Nachahmung, die folgerichtig zum Grundbegriff wird, um künstlerisches Tun zu fassen. Hephaistos, krummbeinig und hinkend, ist der Handwerkergott, der die schönsten Dinge hervorbringt und doch von den olympischen Genossen belacht wird – Sinnbild für ein Interesse, das allein der ›Schönheit‹ im Dienst der Herrschaftssicherung gilt. »Man sorge für Musik, für klassische Musik«, verlangt der Kaiser (Frisch 1947/1964), der im Begriff ist, »die Endgültige Ordnung« zu errichten (…). Das Können, das im ›K‹ sein Gütesiegel hat, wird zur Quelle, an der sich die Herrschaftsmächte versorgen: seien es die Säulen in der Fassade eines Bankgebäudes; sei es der Sitz einer Regierung, die im Falle der US-amerikanischen nicht nur architektonisch, sondern auch dem Namen nach die Nachfolge der römischen Antike beansprucht; sei es die aristotelische Poetik, die zu einer Lehre des gesellschaftlich Gesollten im Medium der Dichtung ausgearbeitet wurde; sei es die Kunstpolitik in den einstigen staatssozialistischen Ländern, mit der die legitime Fortführung des ›klassischen Erbes‹ beansprucht wurde. Herrschaftlicher Indienstnahme setzt sich die Befreiung von Herrschaft entgegen: Der Poetik des Herrscherlobs widerspricht die »Poetik der Befreiung von Herrschaft« (Haug 2006), die nicht weniger gekonnt sein will. Der Fries des Pergamonaltars gereichte »nicht nur den Götternahen zum Ruhm, sondern auch denen, deren Stärke noch verborgen lag« (Weiss 1975).

Die Suche nach Vorbildern, die im Ergebnis eine ›Tradition‹ zu bilden vermag, dient vor aller ideologischen Legitimation der Orientierung in der Gegenwart. Als Dante auf seiner Reise ins Jenseits »den rechten Weg verloren hatte« (Göttliche Komödie, 1. Gesang, 3), trifft er auf Vergil, den er sogleich als »Vorbild« und »Meister« anspricht: »Du ganz allein bist der, dem ich verdanke / Den schönen Stil, der mich zu Ehren brachte.« (1. Gesang, 85-87) Und die Hoffnung, beim ›Klassiker‹ Antwort zu finden, wird nicht enttäuscht: »Du musst auf einem andern Wege gehen« (…), rät der Gefragte. – »Die etwas fragen / Die verdienen Antwort«, sagt der alte Laotse, der seine Reise für sieben Tage unterbricht, um dem Zöllner die Antwort nicht schuldig zu bleiben (Brecht). Ohne den Zöllner bleibt die Weisheit Privatsache; indem sie verlangt wird, kann sie ihre Strahlkraft, d.h. gruppenbildende Wirkung entfalten. Das ›K‹, in dessen Namen höchste Werthaftigkeit zu- oder abgesprochen wird, ist daher in erster Linie als Hegemonial-, nicht als Stil- oder Periodisierungskategorie zu behandeln. Es interessieren die gesellschaftlichen Kräfte, die das ›K‹ begründen und umgekehrt von ihm begründet werden. Nicht zufällig wird die Frage, was ein ›klassischer‹ Autor sei, immer wieder neu gestellt. Wer in der Schule gelesen wird, hängt nicht allein von einer dem einzelnen Autor innewohnenden Vorzüglichkeit ab, die Institution funktioniert »als Apparat, als Praxis und als Ideologie« (Viala 1993). Wo immer vom ›K‹ die Rede ist, ist daher auf die Kräfteverhältnisse zu achten, in denen es produziert wird und die der Schlüssel zu seiner geschichtlichen Wirkungsmacht sind. Aber unabhängig davon gilt auch: Man liest oder hört ›die Klassiker‹ wegen des Vergnügens. Auf die Frage, warum er Goethes Hermann und Dorothea noch heute lese, antwortete Hanns Eisler: »Wegen der Schönheit […], also wegen der Formvollendetheit. Und wegen der […] Widersprüche« (1975).

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