Krise des Marxismus
A: azmat al marxiyah. – E: crisis of Marxism. – F: crise du marxisme. – R: krizis marksizma. – S: crisis del marxismo. – C: makesizhuyi de weiji 马克思主义的危机
Wolfgang Fritz Haug
HKWM 7/II, 2010, Spalten 2160-2192
Ende 1977 riefen in Venedig westliche kommunistische Intellektuelle eine »KdM« aus und markierten damit die umstrittenen Selbstveränderungen, die »der Loslösungsprozess […] vom Marxismus-Leninismus stalinscher Prägung« unabdingbar machte (Spohn 1979). Anlass war die Diagnose einer Krise der kommunistischen Bewegung (Claudín 1972). Bezog sich die Provokation ursprünglich auf »deutlich umrissene Strategieprobleme der eurokommunistischen Parteien Italiens, Spaniens und Frankreichs«, schlug sie wenig später zumindest in der gesamten westeuropäischen Linken ein (Editorial zu Prokla 36, 1979). Zum Anlass der Abwendung vom Marxismus genommen von den Einen, als befreiender Erneuerungsimpuls begrüßt von den Andern, wurde die KdM kategorisch bestritten von den Vertretern des ML. Letztere konnten sich darauf berufen, dass nach dem Selbstverrat des Marxismus der II. Internationale 1914 im Ersten Weltkrieg die auf Marx sich berufende Theorie-Praxis 1917 im bolschewistischen Marxismus Lenins ein zweites geschichtsmächtiges Leben gewonnen hatte. Als aber Ende 1981 in Polen der militärische Ausnahmezustand verhängt worden war und die IKP unter Enrico Berlinguer feststellte, die mit der Oktoberrevolution 1917 eröffnete Entwicklungsphase des Sozialismus habe »ihre Ausstrahlungskraft verloren, genau wie jene Phase der II. Internationale« 1914 (zit.n. Neubert 2009), begann, was anfangs ein bloßer Intellektuellendiskurs zu sein schien, sich zur Endkrise des ML auszuwachsen. Als die ›ideologische Auszehrung‹ des europäischen Staatskommunismus 1989/91 mit dessen Zusammenbruch endete, begleitet vom Zusammenbruch der Befreiungs- und Entwicklungsregime der ›Dritten Welt‹, schien v.a. in Europa der Schlussstrich unter die Geschichte des organisierten und in Politik oder sogar Staatsmacht umgesetzten Marxismus gezogen.
Die Erfahrung des neoliberal entfesselten, weil nach Auflösung der SU konkurrenzlos gewordenen Kapitalismus und vollends dessen an den Rand der Selbstzerstörung treibende, am Finanzmarkt begonnene systemische Krise von 2007ff bezeugten jedoch die Aktualität der marxschen Kapitalismustheorie, zögernd gefolgt von neuen Formen organisierten Strebens über die Grenzen des Kapitalismus hinaus. Die Einsicht drängt sich auf, dass die Geschichte des Marxismus nicht an ihr Ende kommen wird, solange Kapitalismus herrscht. Dass sie aber unaufhebbar krisenhaft sein wird, darin stimmen Erfahrung und Überlegung überein. Doch ›Krise‹ kann Verschiedenartiges bedeuten. Damit bleiben Klärungsversuche dessen aktuell, was KdM bedeuten kann und welche Bewegungsformen ihr eignen.
➫ Antagonismus, Arbeiterbewegung, Bolschewisierung, Demokratie/Diktatur des Proletariats, demokratischer Sozialismus, Dialektik, Dissident(inn)en, Dogmatismus, ethischer Sozialismus, Eurokommunismus, Fehler, Feminismus, Fortschritt, Gramscismus, GULag, Kantianismus, Kautskyanismus, Ketzer, Kommunismus, Kriege zwischen sozialistischen Staaten, Krise, Krise des Fordismus, Kritische Theorie, Kronstädter Aufstand, Legaler Marxismus, Lehrbuchmarxismus, Leitfaden,Luxemburgismus, Maoismus, Marxismus, Marxismus-Leninismus, Marxismus Lenins, Mehrwert, Moskauer Prozesse, Neue Ökonomische Politik, Neue Soziale Bewegungen, Neukantianismus, Niederlage, Ökologie, Orthodoxie, pluraler Marxismus, Postmarxismus, Reformismus, Revisionismus, Sozialdemokratie, Staatssozialismus, Stalinismus, Trotzkismus, Verelendung, Wert, Zusammenbruchstheorie, Zweite Internationale