Leitfaden
A: dalīl. – E: guiding thread. – F: fil conducteur. - R: putevodnaja nit’. – S: hilo conductor. - C: zhudaoxiansuo 主导线索
Wolfgang Fritz Haug
HKWM 8/I, 2012, Spalten 930-942
In der Deutschen Ideologie, die als Gründungsschrift der materialistischen Geschichtsauffassung gelten kann, bestimmen Marx und Engels Leistung und Grenze ihrer Grundthesen dahingehend, dass sie »nur dazu dienen, die Ordnung des geschichtlichen Materials zu erleichtern«, aber »für sich«, getrennt von der Untersuchung der Wirklichkeit, »keinen Wert« haben (…). Rückblickend auf dieses unveröffentlicht gebliebene Manuskript und seine anderen Studien spricht Marx vom »allgemeinen Resultat, das sich mir ergab und, einmal gewonnen, meinen Studien zum L diente«: dass nämlich die der Entwicklung der Produktivkräfte entsprechenden Produktionsverhältnisse als »die reale Basis« begriffen werden können, »worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen« (Vorw 59).
Das Bild vom »L« dient Marx und Engels hinfort als epistemologische Metapher, mit der sie den Geltungsanspruch ihrer Theorie sowohl zum Dogmatismus als auch zu orientierungsloser Beliebigkeit hin abgrenzen. Max Weber glaubte, die marxschen Begriffe und Theoreme als »idealtypische Konstruktionen« fassen zu können, worunter er allerdings reine »Gedankenbilder« versteht, deren Gehalt »nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar« sei (WL). Im Unterschied zu dieser Entwirklichung der Theorie bindet Marx ihren realistischen Erkenntniswert an die »Untersuchung der Wirklichkeit«. Dies tut er freilich nicht immer, wie die viel missbrauchte, obgleich noch vor der DI geschriebene These zeigt, dem Proletariat seien sein (revolutionäres) »Ziel und seine geschichtliche Aktion […] unwiderruflich vorgezeichnet« (HF). Ob also er und Engels jenem Kriterium selber jederzeit genügen, ist eine immer wieder neu zu stellende Frage.
Im späteren Marxismus ist die Geltungsgrenze der aus Forschung resultierenden Abstraktionen regelmäßig überschritten worden. Am weitesten ging Lenin 1913, anlässlich des 30. Todestages von Marx, mit dem Satz: »Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.« (…) »Als hätten die Autoren diese [eingangs zitierten] Sätze nie geschrieben«, bemerkte Alfred Schmidt 1966, »ist die ontologisierende Marx-Interpretation unentwegt dabei, jene ausdrücklich als Hilfsbegriffe bezeichneten Resultate der Analyse den Materialien, aus denen sie abstraktiv gewonnen wurden, als fundierendes Sein vorzuordnen.« (…)
Das Bild des L und sein Gebrauch sind jedoch selbst zweideutig. Sie schillern zwischen Heuristik und Orthodoxie oder zwischen bloßer Findevermutung und einer Anweisung aufs ›richtige Denken‹, eines Schulungstextes, der das als richtig Feststehende nurmehr ›vermittelt‹. Während die Technologie Anleitungen und Gebrauchsanweisungen hervorbringt, produzieren Recht und staatliche Bürokratie unzählige Leitfäden, die den Weg durch Behörden, Vorschriften und Prozeduren weisen. Wo der L die mechanische Leitung übernimmt, sieht Adorno die Gefahr, dass es zugeht wie beim »kleinen Beamten, der überwacht, dass alles so streng in seiner Kategorie bleibt wie er selbst in seiner Gehaltsklasse. Noch der Tod wird am L behandelt, in den SS-Verordnungen und in den Existenzialphilosophien« (Jargon der Eigentlichkeit). – Für Forschungs- und allgemein Erkenntnisprozesse wird der L oft ins narrative Bild des Ariadnefadens gebracht. Ariadne soll Theseus einen Faden gegeben haben, der ihm erlaubte, den Rückweg aus dem Labyrinth zu finden. Der am Eingang befestigte Faden hätte demnach nicht geholfen, den Weg ins Zentrum zu finden, wohl aber hätte er den um die Irrwege bereinigten Weg dorthin eins zu eins ›abgebildet‹ und verhindert, dass Theseus sich in der chaotischen Mannigfaltigkeit der Irrwege verfangen und den Rückweg verfehlen würde. Verwandte Kategorien sind ›Richtschnur‹ oder ›Kanon‹ (von gr. kanóon, gerader Stab, auch Lot).
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