Lamarckismus

A: lāmārkīya. – E: Lamarckism. - F: lamarckisme. – R: lamarkizm. - S: lamarckismo. – C: lamakezhuyi 拉马克主义

Reinhard Mocek, Volker Schurig, Oliver Walkenhorst

HKWM 8/I, 2012, Spalten 631-650

Unter L werden Varianten einer Evolutionstheorie zusammengefasst, die auf die vom französischen Botaniker und Zoologen Jean-Baptiste de Lamarck (1744/1829) entwickelte Vorstellung einer kontinuierlichen und gerichteten Höherentwicklung der Organismen zurückgehen. Lamarck hatte seine Theorie 1809 erstmals systematisch dargestellt. Die verstärkte Rezeption bestimmter Elemente daraus – v. a. die ›direkte‹ Anpassung der Organismen an die Umwelt und die Vererbung der so erworbenen Eigenschaften – unter der Sammelbezeichnung L (bzw. Neo-L) erfolgte allerdings erst im letzten Drittel des 19. Jh., nachdem Charles Darwins On the Origin of Species (1859) Debatten um die Erklärungskraft der natürlichen Selektion ausgelöst hatte. Nach einer Hochphase lamarckistischer Ansätze zwischen den 1880er und 1920er Jahren – als die Evolution zwar allgemein anerkannt war, aber nur wenige Biologen das darwinsche Selektionsprinzip für entscheidend hielten – wurde dem L ab den 1930er Jahren mit der synthetischen Evolutionstheorie, die Selektion und Mutation auf der Basis der Genetik miteinander verknüpfte, der wissenschaftliche Boden entzogen. Der von der SU ausgehende Lyssenkismus, der trotz dieses Siegeszugs bis in die 1960er Jahre an lamarckistischer Vererbung (v. a. auf dem Gebiet der Kulturpflanzenzüchtung) festhielt, gilt als drastischer Fall einer politisch sanktionierten Verstümmelung von Naturwissenschaft. Seit den 1990er Jahren wird im Rahmen der Epigenetik international wieder intensiv versucht, die Vererbung erworbener Eigenschaften experimentell zu überprüfen.

Besonders die Arbeiterbewegung im 19. und im ersten Drittel des 20. Jh. war vom L – neben und teilweise in Konkurrenz zum Darwinismus – stark beeinflusst. Er passte hervorragend zu ihrer Grundüberzeugung, dass der Mensch an Leib und Geist veränderbar und zum Besseren zu führen sei und dass ihn die äußeren Lebensumstände maßgeblich prägten. Diese Milieutheorie, die sich auf Aussagen bei Ludwig Feuerbach und Marx stützen konnte, bot angesichts der im Proletariat des 19. Jh. verbreiteten Vorstellung einer Degeneration durch bedrückende Lebensumstände die hoffnungsvolle Aussicht, dass sich die Arbeitenden an eine zu erkämpfende bessere Umwelt anpassen und dies an die Nachkommen erblich weitergeben werden; dem darwinistischen Erbfatalismus traten große Teile der Arbeiterbewegung also allein aus politischen Erwägungen entgegen. Darüber hinaus wandte sich der L gegen die darwinistische Formel vom »Kampf ums Dasein«, die – obwohl anfangs teilweise auch von links emphatisch begrüßt – noch die grausamsten Aspekte der kapitalistischen Verhältnisse rechtfertigen konnte. Anknüpfend an Überlegungen zur züchterischen Umgestaltung des Menschen, die gegen Ende des 19. Jh. in der Arbeiterbewegung aufkamen, bildete sich mit dem Sozial-L eine lamarckistische ›linke‹ Version des Sozialdarwinismus heraus, die sozialreformerische Anliegen mit eugenischem Denken verband. Der Sozial-L wurde die theoretische Grundlage einer proletarischen Rassenhygiene, die im ersten Drittel des 20. Jh. nicht nur in Deutschland große Resonanz fand und das ›Hinaufzüchten‹ des Proletariats als Weg der Befreiung ansah.

Die in der Geschichte von L und Sozial-L aufgeworfenen Grundfragen nach der Wechselwirkung zwischen politisch-ökonomischen Verhältnissen und der Theoriebildung in den Natur- und Sozialwissenschaften sowie nach einer naturwissenschaftlichen Fundierung von Gesellschaftstheorie samt deren politischen Konsequenzen werden im Zuge der Entwicklung der Produktivkräfte immer wieder neu gestellt.

Affe, Aufklärung, Biologismus, Darwinismus, Determinismus, Entwicklung, Eugenik, Evolution, Evolutionismus, Fortschritt, Kampf ums Dasein, Kreationismus, Lebensweise/Lebensbedingungen, Lyssenkoismus, Menschenbild, Menschwerdung, Natur, Naturdialektik, Naturgeschichte, Neuer Mensch, Notwendigkeit, Pawlowismus, Sozialdarwinismus, Teleologie, Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftskritik, Zufall, Zweck

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l/lamarckismus.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/24 12:37 von christian     Nach oben
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