Lüge
A: kaḏib. – E: lie. – F: mensonge. – R: lož’. – S: mentira. – C: huǎngyán 谎言
Wolfgang Fritz Haug
HKWM 8/II, 2015, Spalten 1334-1353
Die Versuchung liegt nahe, sich von der alltäglich-zwischenmenschlichen Ebene dazu verleiten zu lassen, den besonderen Skandal der öffentlichen L in der unterschiedslosen Allgegenwart der L aufzulösen, zumal es kein »sprachliches Zeichen der L« gibt, das den »Unterschied zwischen zynischen Herrenlügen und selbsterhaltenden, fröhlichen L.n der Beherrschten auch linguistisch deutlich machte« (Götze 2014, 527). Die L-Problematik, die ihren Eingang ins HKWM verlangt, entspringt aber Verhältnissen staatlich-ideologisch reproduzierter Klassenherrschaft und führt ins Feld antagonistischer Kommunikation. Dasselbe Wort meint nicht dieselbe Sache, wenn auf unterschiedliche gesellschaftliche Verhältnisse oder quantitativ und qualitativ verschiedene Mächte bezogen. Von gewaltgepanzerter staatlich-politischer Macht, von sozioökonomischen Herrschaftsmächten im ideologischen Klassenkampf-von-oben oder von den stummen Gebrauchswertversprechen der Warenästhetik ausgehend, ist die L einseitig (nicht von gleich zu gleich erwiderbar) und grenzt an Manipulation.
Zur alltäglichen Handlungsfähigkeit gehört daher das Wissen von den Antagonismen, die als asymmetrische L-Generatoren fungieren. Ihr Ort ist die staatliche Ebene, die parastaatliche der ideologischen Mächte und die der gesellschaftlichen Großmächte des Kapitals. Ihre L-Emission stützt sich auf massenmediale Apparate, die, wenn nicht staatlich, so Privateigentum sind. Ihr Zeichenfundus beschränkt sich nicht auf sprachliche Aussagen, sondern zum Wort gesellen sich Gestaltung und Bild in multimedialer Inszenierung. Paradigmatisch ist das Beherrschen durch Bedienen in der Warenästhetik, wo die wortreiche Lobrede im wortlosen Äußeren der Warenkörper ankert. Die L haust hier in der Logik des Gegenteils: »Das Streben nach abstraktem Reichtum wird zur Quelle, aus welcher der sinnliche Schein sprudelt. Gerade die Gleichgültigkeit des Kapitals gegenüber dem Gebrauchswert äußert sich in dessen phantastischster Inszenierung.« (Haug 2009, 230)
Etwa im gleichen Sinn, in dem Adorno sagt, es gebe »kein richtiges Leben im falschen« (Minima Moralia, Aph. 18), wobei das »falsche« hier dem gr. Ausdruck ψεῦδος entspricht, fasst Brecht die Unwahrheit als einen »Prozess, keine Summe von möglichen und glaubbaren Tatsachlosigkeiten, und sie hat so lange schon alle Ausdrucksformen ergriffen und vor den Fragestellungen nicht haltgemacht« (GA 21, 585). So stellt die L-Frage sich zuletzt nicht im Sinne einzelner Sprechakte o.dgl., sondern als auf eine Totalität von Erscheinungen bezogenes Urteil über deren Unwahrheit.
»Die L wird zur Weltordnung gemacht« – mit diesem Satz aus Franz Kafkas Prozess (Kap. Im Dom) formuliert Walter Benjamin 1938 dasjenige, was in Brechts Furcht und Elend »dem Leser als die entscheidende These […] entgegentritt« (GS II.2, 517). Was hier aufs NS-Regime zielt, verallgemeinert Georg Lukács: In Deutschland könne »eine Harmonie zwischen den herrschenden Mächten und der deutschen Kultur nur vorgetäuscht werden und hat daher stets etwas Verlogenes. Diese L, die subjektiv nur allzu oft aus dem Selbstbetrug erwächst, vergiftet die ganze deutsche Kultur- und Geistesgeschichte.« (1953, 12)
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